Wach

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„Du sollst duschen gehen", flüstert Luna.
„Nein."
„Du sollst aber duschen gehen."
„Nein!"
Sie fordert mich nun bereits zum zehnten Mal dazu auf.

Bisher hatte sie noch keinen Erfolg.
„Deborah will es aber."
„Nein."
Ich muss mir gestehen, es war eine dumme Antwort.
„Doch, wenn du nicht gehst, kommt sie dich holen."
Ich verdrehe die Augen. Deborah kann mich ja nicht zwingen. Noch im selben Moment lache ich mich in Gedanken selbst aus: Und ob sie das kann!

„Ich dusche in einer Stunde", sage ich.
Luna nickt. Sie scheint erleichtert zu sein darüber, dass ich mich überhaupt bereit erkläre, ein Bad zu nehmen. Seit Blade hier ist, habe ich nicht mehr geduscht. In diesen drei Tagen hat sich ganz schön viel Dreck und Schweiß an mir angesammelt.

Leise verlässt sie das Zimmer.
Ich bleibe sitzen. Meine Finger streichen über die Verbände an Blades Handgelenken.
Ein Zucken durchfährt ihn.
Langsam öffnet er seine Augen.
Mein Herz beginnt schneller zu schlagen.

„Blade!"
Sein Blick gleitet zu mir. Seine grauen Augen mustern mich.
„Du bist wach."
Ich spürte, wie Tränen über meine Wangen liefen.
Blade zeigt keine Emotionen. Ungerührt sieht er mich an.

Langsam machte sich ein ungutes Gefühl in meinem Magen breit.
„Sag etwas! Bitte!", flüstere ich.
„Du warst nicht da."
„Jetzt bin ich da!"
„Du warst nicht da", sagt er wieder.
Ich blinzle überrascht.

Seine Stimme hat noch nie so rau...so fremd geklungen.
„Was ist los mit dir, Blade?", frage ich.
Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.
Er schnaubt: „Was mit mir los ist? Wo warst du die ganze Zeit?"
„Ich war hier."
„Und da konntest du dich nicht einmal melden?"
„Ich...", verwirrt verstumme ich.

Ich konnte einfach nicht mit ihm reden! Es ging nicht, ob ich wollte oder nicht. Da war ja noch diese Sache mit meinen Gefühlen, die ich erst noch erkennen musste.
„Ich wusste nicht, wie es dir geht, Hestia", fuhr er mich an, „ich wusste nicht einmal, ob du überhaupt noch lebst! Woher auch. Mit mir hat ja niemand gesprochen!"

„Ich konnte nicht."
„Und ob du gekonnt hättest. Du wolltest nicht!"
Heftig schüttle ich den Kopf. Ich wollte es wirklich!
„Es ging nicht, Blade."
„Sei doch still! Lüg mich nicht an. Ich war dir genauso egal wie all den anderen Menschen auf dieser Welt. Ich habe Jolie gekannt! Ja, das habe ich und ja, es war mir ziemlich egal, ob sie lebt oder stirbt, weil ich wusste, wie es ist, in dieser beschissenen Welt gefangen zu sein. Ich wollte es ihr ersparen! Aber du hast mir ja nicht einmal zugehört. Du hättest es, glaub mir."

„Ich weiß, ich hätte..."
„Warum hast du dann nicht. Du warst weg!"
Immer mehr Tränen fließen über meine Wangen. Das ist nicht der Blade, den ich kennengelernt habe.
„Ich wusste nicht, dass ich dir...", ich verschlucke mich an meinen eignen Worten.

„Das du mir so wichtig bist? Vielleicht hättest du dir dessen Mal klar werden sollen. Du bist mir verdammt nochmal nicht nur wichtig, Hestia: Ich liebe dich! Jedenfalls habe ich das."

Ich spüre, wie jegliche Farbe aus meinem Gesicht weicht. Mein Herz beginnt zu rasen. Ich weiß einfach nicht, was ich tun oder denken soll.

„Blade, ich..."
„Sei einfach still."
Leise schluchze ich auf: „Ich will dich nicht verlieren, Blade."
Ein freudloses Lachen lässt mich erzittern: „Das fällt dir aber früh ein. Wenn es nach dir gegangen wäre, hätten wir uns doch nie wieder gesehen."

„Du musst das verstehen, Blade, ich brauchte einfach noch Zeit."
„Ja", er schnaubt, „du brauchtest Zeit und was ist mit mir? Ich hätte dich gebraucht, aber was für mich wichtig ist, hat für dich ja sowieso keine Bedeutung. Habe ich Recht?"
„Blade..."
„Du musst nichts mehr sagen."

Ich wische eine Träne weg, ehe sie wie die anderen über meine Wange laufen kann. Ich will etwas sagen! So unendlich viel, doch ich kann es nicht. Es geht einfach nicht. Nie geht es, in diesem Punkt hat Blade Recht, aber das heißt nicht, dass ich es nicht will.

Ich will ihn zurück. Den alten Blade!
„Geh, Hestia."
Dieses Mal widerspreche ich nicht, sondern erhebe mich.
Auf zitternden Beinen schleiche ich zur Tür, wo ich mich ein letztes Mal umdrehe.

Blades Blick ist auf das Fenster gerichtet. Sein Unterkiefer mahlt angestrengt. Er ist aufgeregt, vielleicht liegt es an der Wut.

Ich schaffe es, von ihm weg zu sehen und den Raum zu verlassen. Hinter mir fällt die Tür wieder leise zu.

Ohne aufzusehen laufe ich durch die Flure der Klinik.
„Hestia!"
Es ist eindeutig Lunas Stimme. Ich ignoriere sie.
Schritte erklingen hinter mir.
Ich werde langsamer.
Bereit sie anzuschreien, fahre ich herum. Sie prallt gegen mich und...schlingt ihre dünnen Arme um mich.

Völlig verwirrt bleibe ich einfach stehen.
„Du brauchst keine Angst zu haben", flüstert sie.
Ihre zarten Finger streicheln über meinen Rücken.
Ich erwidere ihre Umarmung und schließe meine Arme um ihren zierlichen Körper.

„Alles wird gut", redet sie leise weiter.
Ich verberge mein Gesicht in ihrem dichten blonden Haar und beginne zu weinen. Sie drückt mich noch fester an sich.
„Ich kann nicht mehr", hauche ich.
Ich kann ihr Nicken deutlich an meiner Schulter spüren: „Ich weiß, Hestia, aber es geht weiter. Das wird es jetzt und auch in Zukunft. Du bist nicht allein."

„Aber ich fühle mich so im Stich gelassen."
„Das habe ich auch", sagte sie in mein Ohr, „und dann kamst du, Hestia, ich bin bei dir. Ich bin deine Freundin!"
Ich nicke leicht und atme ihren rosigen Duft ein. Das heftige Pochen in meiner Brust beruhigt sich langsam.

Luna, dieses zierliche und ängstliche Mädchen, schafft es, mich zu Erden, warum auch immer.
„Ich bringe dich noch zu den Duschen", sagt sie nun etwas lauter.
Ich befreie mich vorsichtig aus ihren Armen. Sie reicht mir ihre Hand.
„Freunde?"
Lächelnd nehme ich sie entgegen.
„Ja, Freunde!"

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