Kapitel 1

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„Kommst du nun mit?", fragte ich Johannes nach der Schule.

Seit Ewigkeiten wollten wir uns einmal treffen um uns über alles zu unterhalten, aber er hatte nie Lust. Alles war in diesen Fall Johannes, denn er hatte große Probleme, vor denen ich versuchte, ihn zu beschützen.
Nicht besonders differenziert, aber gut.

„Ja", lautete die überraschende Antwort. Ich freute mich riesig. Darauf hatte ich sehr lange gewartet.

Gemeinsam machten wir uns also auf den Weg zu mir nach Hause. Es war nicht weit und wir unterhielten uns nicht einmal. Es herrschte eine unangenehme Stille.

In meinem Zimmer angekommen machten wir ein paar Hausaufgaben, aber Lust hatte ich keine. Deshalb hatte ich ihn ja auch nicht getroffen. Ich nahm meinen Mut zusammen und durchbrach die Stille: „Warum machst du das eigentlich?"

Ich bereute es sofort. Es klang so nach Psychologen. Nach möchte-gern-einfühlsam-sein. Ich wollte aber kein Psychologe sondern ein Freund für ihn sein. Vielleicht ein Rückzugsort, aber niemand, der ihn ausfragt.

„Ich fühle mich einfach wie ein Versager. Ich kann nichts! Wenn ich dich etwas frage, was du seit der vierten weißt und ich keine Ahnung habe, wenn im Notenspiegel mal wieder eine fünf steht und alle mich angucken, wenn ich wieder meine Hausaufgaben nicht habe, obwohl ich keine Hobbys und viel Zeit habe, wenn ich meinen Bruder sehe, der Erfolg im Business hat.. Immer.."

„Und da hast du keine andere Möglichkeit, so etwas zu verarbeiten?", fragte ich entgeistert.

„Nö. Der Schmerz... hilft irgendwie... Es ist besser als der seelische Schmerz jeden Tag. Wie, als könnte ich den Schmerz so aus mir befreien. Verstehst du?"

Ich tat mein Bestes um es zu verstehen aber es gelang mir nicht.

„Kannst du nicht mal probieren, auf ein Kissen zu schlagen oder so?"

„Klappt nicht."

„Boxen?"

„Auch nicht."

„Tanzen?" Das klang verrückt aber ich wusste, dass es hilft. Es ähnelt dann eher spastischen Zuckungen, aber es hilft. Besser als nichts, oder so.

„Das tut ja nicht mal weh"

„Das ist ja der Sinn der Sache", lachte ich, aber es war ein verzweifeltes Lachen.

Nach einer langen Pause kramte er in seinen Rucksack.

Er holte ein Messer hervor.

Mir sind bald die Augen aus dem Kopf gefallen.

„Probier's doch auch mal!", schlug er ganz ernst vor.

Ich war nicht dazu in der Lage zu antworten. Das war ja, wie wenn dich dein bester Freund plötzlich fragt ob du mit ihm vor den Zug springen wölltest! Er setzte das Messer an seinen Unterarm an. Bis ich meine Sprache wiedergefunden hatte, zogen sich bereits zwei lange Schnitte über seinen Arm. Es war absolut surreal! Niemand hätte mir je geglaubt, dass es so passiert ist!

„Hör auf damit!", forderte ich mehr weinend als sprechend auf.

„Wieso?"

Ein weiterer Schnitt.

Ich konnte nicht länger zuschauen.

Blut lief über seinen Arm und tropfte auf das helle Parkett unter mir. Ich entriss Johannes das Messer und warf es weg. Zitternd blieb es in der Wand stecken.

„Das kannst du mir nicht antun!", flehte ich ihn an.

„Wieso nicht?"

„Weil... Weil.... „ Mir fiel keine Begründung ein.

„Siehst du?"

Er war nicht einmal irgendwie emotional berührt, sondern machte es einfach als wäre es normal. Wie duschen, oder essen.

Ich war nicht mehr dazu in der Lage zu sprechen. Mein bester Freund ritzte sich einfach so vor meinen Augen!

Nach einer Weile konnte ich wieder einige klare Worte herausbringen.

„Weißt du eigentlich wie du uns damit wehtust?", fragte ich vorsichtig.

„Wer ist uns?"

„Dein Bruder, deine Mutter, deine Freunde!"

„Du bist der einzige der sich auch nur ansatzweise so viel mit meinen Problemen beschäftigt wie mein Psychologe", lachte er trocken.

Dann fügte er traurig hinzu: „Und der hat auch bloß keine Ahnung."

„Aber wenn ich so etwas sehe..."

Ich konnte den Satz nicht beenden.

„Was?"

„Ich helfe dir ja gerne, aber... Ich kann das nicht ertragen, wenn du dich vor meinen Augen selbst verletzt."

„Heißt das, du willst dich nicht mehr mit mir treffen?"

„Doch! Aber nur wenn du dir überhaupt... helfen lassen willst. Das nimmt mich extrem mit, und ich will, dass es wenigstens einen Zweck hat!"

Johannes blickte an einen unbestimmten Punkt an der Wand.

Ich sah ihn eine Weile traurig an und dachte über das Geschehene nach.

Irgendwann richtete er sich wortlos auf und verließ das Haus.

Shit, ich hatte mich echt unglücklich ausgedrückt.

JohannesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt