Kapitel 1

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Frau Müller knallte mein Zeugnis vor mir auf den Tisch: „Eine Fünf in Mathe und eine Sechs in Latein. Glückwunsch, ich denke du darfst die zehnte Klasse nochmal machen." Sie sagte es nicht sehr laut, aber doch so laut, dass die ganze Klasse sie hören konnte. Wie ich diese Frau hasste. Sie schikanierte jeden, der es wagte näher als drei Meter an sie heran zu kommen. Sie demütigte die Fünftklässler ohne jeglichen Grund und verteilte mündliche Fünfer und Sechser wo es nur ging. Ja, sie war das größte Ekel eines Menschen, das man sich vorstellen konnte.

Wenn sie wüsste, dass ich ihr mit meinen Krallen wehtun könnte, so weh wie sie mir gerade tat, weil mich alle anstarrten und über mich tuschelten. Als Luchs könnte ich mit meinen Zähnen die Fünftklässler verteidigen. Als Luchs könnte ich sie ganz einfach dazu bringen um Gnade zu betteln. Als Luchs könnte ich – halt, nicht daran denken, nicht an den Luchs in dir. Zu spät. Ich spürte wie mir Krallen aus den Fingern wuchsen, die ich unter dem Tisch zu Fäusten geballt hatte, wie mein Nacken zu kribbeln begann, als dort Fell wuchs. Marie, die neben mir saß, legte mir die Hand auf den Arm und schüttelte kaum merklich den Kopf. Ich atmete tief durch, steckte meine Hände, die inzwischen zu pelzigen Pfoten geworden waren in die Taschen meines Kapuzenpullovers und konzentrierte mich auf meine Menschengestalt. Erleichtert bemerkte ich, wie sich meine Hände wieder zurückverwandelten und nahm sie aus den Taschen. Über das Fell in meinem Nacken brauchte ich mit keinen Sorgen machen. Meine langen, braun-rötlichen Haare verdeckten es.

Ich nickte Marie dankbar zu, die gerade ihr eigenes Zeugnis entgegennahm. Ein Blick zur Seite ließ den kleinen Funken Hoffnung, der noch in mir geglommen war, erlöschen. Bestnoten in allen Fächern, na toll. Das bedeutete dann wohl, dass ich die zehnte Klasse alleine wiederholen durfte. Weg von Marie, die fast meine einzige Freundin in der Schule war. Ich hatte nicht viele Freunde hier. Für die Meisten war ich ein Freak. Ein Mädchen ohne Sinn für Klamottenstil. Eine, die zweimal die Woche zum Judo ging und deshalb schlechte Noten schrieb.

Die Schulglocke läutete und unterbrach meine Gedanken. Endlich raus hier, zumindest für die nächsten sechs Wochen. Fahrig stopfte ich mein Zeugnis in meine Mappe und warf mir mit Schwung den Ranzen über die Schulter. So schnell wir konnten quetschten wir uns aus dem stickigen Klassenzimmer und durch die überfüllten Gänge. Jede Ecke dieser -doch schon etwas maroden- Schule war uns vertraut, jeder kleine Hubbel im Boden. Jedes wackelige Geländer. Die verfluchte Stufe, auf der einem runterfiel, was auch immer man in der Hand hielt.

Vor dem Fahrradkeller trennten sich unsere Wege. Marie umarmte mich kurz, aber trotzdem fest. „Schöne Ferien.", murmelte ich.

„Ebenfalls.", kam es von ihr zurück. Als ich mich gerade umdrehte, um zu gehen, schaute sie sich einen Moment um und hielt dann mein Handgelenk fest. „Sieh bitte zu, dass du das mit deinen Verwandlungen in den Griff bekommst. Nächstes Jahr bin ich nicht mehr da, um dir zu helfen. Pass auf dich auf." Sie umarmte mich ein letztes Mal und sprintete dann los, um ihren Bus nicht zu verpassen. Ich seufzte und holte mein Fahrrad aus dem eigentlich viel zu kleinen Fahrradkeller.

Auf dem Heimweg konnte ich an nichts anderes denken als daran, dass ich meinem Vater erklären musste, dass ich mich in der Schule teilverwandelt hatte und meiner Mutter, dass ich nicht versetzt worden war. Wie verschwommene Schatten glitten die Häuser der Altstadt an mir vorbei. Immerhin musste ich nicht darüber nachdenken, wo ich langfahren musste. Die Strecke kannte ich wie meine Westentasche. Meine Gedanken wanderten wieder zurück zu meiner Familie. Nur meine Oma und mein Vater waren Wandler, allerdings wohnte Oma mehrere hundert Kilometer weg in Lissabon und mein Vater konnte seine Zweitgestalt nicht ausstehen. Meine Oma verwandelte sich gerne. Ohne sie hätte ich vermutlich nie erfahren, dass ich überhaupt eine zweite Gestalt hatte, aber wir sahen sie nur selten. Mein Vater hatte keinen guten Draht zu ihr und war schon mit 19 nach Deutschland gezogen. Bei der Ausbildung zum Schreiner hatte er dann meine Mutter kennengelernt. Für ihn war seine zweite Gestalt ein unüberwindbares Handicap, das es zu unterdrücken galt.

Zuhause stellte ich mein Rad in die Garage und schloss die Tür auf. Ich zog meine Schuhe aus, ließ den Ranzen in die gewohnte Ecke im Wohnzimmer schlittern, ließ mich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Meine Mutter kam aus der Küche zu mir und legte ihre Hände auf meine Schultern.

„Es hat nicht gereicht, stimmts?", fragte sie leise. Ich nickte. Sie zog mich nach oben und umarmte mich. „So schlimm ist das jetzt auch nicht, Tilda. In Mathe war ich auch immer schlecht und Latein wirst du nie wieder--"

Ich fiel ihr ins Wort: „Ich hab mich teilverwandelt, vor Frau Müller. Sie hat nix gemerkt, aber ich konnte mich nur wegen Marie wieder zurückverwandeln und wenn die nächstes Jahr nicht mehr da ist, dann schaff ich das nicht und, und und..." Mein Gemurmel wurde zu einem Schluchzen und meine Sicht verschwamm. Wie sollte ich das schaffen, noch drei Jahre bis zu meinem Abi durchzuhalten, ohne meine beste Freundin?

Papa kam aus dem Badezimmer und nahm mich ebenfalls in den Arm. „Jetzt sind erst mal Ferien, da kannst du üben. Uns fällt schon was ein.", flüsterte er mir ins Ohr. Ich nickte und wischte mir die Tränen aus den Augen. Er wuschelte mir kurz durch die Haare.

Black Forest Academy || Woodwalkers FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt