Finding Truth

2. Sorry, aber ich bin schüchtern?

Die Hitze in meinem Gesicht verschwindet bis zum Ende der Präsentation nicht. Zu meinem eigenen Schutz schaue ich besser nicht mehr in Liams Richtung.

Sicher ist sicher!

Nach der Präsentation dürfen noch Fragen gestellt werden. Die meisten sind nicht sonderlich schwer oder gemein gewesen.

Damit komme ich klar. Nur noch eine Frage, dann bin ich erlöst.

Dann meldet sich Theodor und ich merke sofort, wie ich nervös werde. Er schaut so selbstgefällig, da kann er nur etwas Teuflisches im Schilde führen. Shit, was will er bloß? Ob das auffällt, wenn ich ihn einfach ignoriere? Ich schaue einfach auf meine Notizen... und dann...

„Mary. Dort meldet sich noch jemand", sagt auf einmal Liam süffisant. Mein Blick schießt in deren Richtung. Ich presse die Lippen zusammen und erwidere zögerlich: „Jaaaa?"

Theodor nickt mir schnell zu und beginnt dann: „Was kannst du uns zur ‚Iphigenie auf Tauris' von Goethe erzählen? Die Verfassung von diesem Werk gilt als Abschluss seiner Italienischen Reise. Deswegen zählen beide Dramen ‚Egmont' und ‚Iphigenie auf Tauris', als bedeutendste künstlerisch, politisch und ethisches Vermächtnis Goethes. Was ist deine Meinung dazu?" Was? Ist das sein Ernst? Egmont, Egmont, Iphigenie? Das war doch gar nicht Sturm und Drang. Oder??? Was sage ich bloß? Irgendetwas Schlaues, komm sag' irgendetwas Schlaues.

„Ähm. Also ich kann jetzt nur...", beginne ich langsam. Bevor ich mich absolut blamieren kann, klingelt es zu meinem Glück, sodass ich nicht vollständig auf die Frage eingehen kann.

Wahrscheinlich rot wie eine Tomate und mit einer Mordslaune verlasse ich den Raum. Es lief alles mehr oder weniger perfekt, bis Theodor mich total auflaufen lassen musste. Warum hat er das getan? Er hat schließlich die ganze Zeit mit Liam gequatscht oder zufällig sich geräuspert oder gehustet. Und ausgerechnet vor Liam! Wer weiß, was er jetzt von mir denkt.

„Was war das denn? Das war ja eine richtig fiese Frage. Hätte es nicht geklingelt...so ein Mistkerl", beschwert sich Gina anklagend woraufhin ich nur zustimmend nicke.

Während wir den Flur entlang traben, fange ich nochmal an das Geschehene zu verarbeiten: „Im Prinzip lief es nicht schlecht. Aber ich weiß nicht, warum er das getan hat. Ich weiß nur, dass ich ziemlich wütend auf ihn bin. Was erlaubt er sich mich so bloßzustellen? Jeder in diesem Kurs wusste, dass ich diese gute Bewertung benötigte. Er hat es mir wahrscheinlich vermasselt."

„Hey Neelson! Das war eine sehr gute Präsentation", ertönt eine mir nur zu bekannte un d sehr sarkastische klingende Stimme - Liams. Ich drehe mich nicht um. Sonst würde er nur sehen, wie sehr mich das alles mitnimmt.

„Hey, er redet mit dir. Kannst du auf einmal nicht mehr reden? Das könntest du doch gerade eben noch." Das war Theodor.

‚Ähm, ja, nein, ich kann... kann darauf jetzt nicht antworten, ähm genau' ", äfft eine andere Stimme mich nach. Neben mir höre ich Gina nach Luft schnappen.

Ruhig bleiben, bleib cool, Ich drehe mich um und versuche mir meine Verletztheit nicht anmerken zu lassen.

Liam klopft Theodor leicht auf die Schulter und gestikuliert ihm zu verschwinden. Doch Theodor setzt erneut an: „Hey, tut mir leid. Ich wusste einfach nicht, dass du so unvorbereitet warst. Und falls du das nächste Mal vielleicht Hilfe beim Präsentieren brauchst [künstliche Pause] kann ich dir auch nicht helfen. Sorry. Aber [er lacht] es war echt zum fremdschämen. Du bist ziemlich rot gewesen. Oder? Was sagt ihr?" Mit einem arroganten Lächeln schaut er mich an.

Theodor und noch ein anderer lachen. Ich fühle mich auf einmal so furchtbar gedemütigt. So eine Frechheit. Was bildet er sich bloß ein? Liams Kumpel hin oder her. Das ist zu viel. Er kann mich doch nicht so blamieren!

Sie hören nicht auf zu lachen. Ihr Gelächter dröhnt in meinen Ohren. Ich nehme all meinen Mut zusammen und sage so cool wie möglich (wirkt wahrscheinlich richtig uncool): „Wäre dir blau lieber gewesen? Und ich bin beeindruckt, wie sehr dich das mitnimmt. Also vielen Dank für deine Tipps zum Thema Lebenshilfe- mit der scheinst du ja schon viel Erfahrung gemacht zu haben. Aber ich brauche die nicht. Such' dir jemand anderen – vielleicht einen deiner Freunde hier. (außer Liam, der braucht die nicht)

Wow. Habe ich das gerade wirklich gesagt? Ich schaue kurz zu Liam, doch dieser schaut mich nur ausdruckslos an. Während der Rest von ihnen lautstark nach Luft schnappt oder die Augen weit aufreißt, zieht Theodor eine Augenbraue leicht nach oben und mustert mich aufmerksam. Warte, ist das ein kleines Lächeln? Nein. Ich muss mich getäuscht haben.

Keiner der Anwesenden sagt etwas. Die Luft ist zum Zerreißen gespannt.

Da tritt ein etwas kleineres Mädchen mit blonden Haaren vor. Ihr Gesicht ist zugegeben wunderschön, beinahe engelsgleich. Ihre platinblonden Haare hat sie zu einem Zopf geflochten. Nur ihre blauen Augen, die sie zusammengekniffen hat, zerstören das schöne Bild von ihr. „Sag mal, was glaubst du eigentlich wer du bist? Stehst hier als hättest du vorhin die beste Präsentation aller Zeiten gehabt. Deine Nervosität war offensichtlich. Übrigens hast du seit letztem Sommer echt zugenommen. Ich würde lieber mein, überschüssige Energien dort investieren", zischt sie verächtlich. Perplex schaue ich sie an.

Nein, Nein, Nein. Bloß nicht weinen. Nicht hier. Nicht jetzt. Reiß dich verdammt nochmal zusammen! Sag was! Irgendwas. Und dann verzieh' dich.

Ich atme noch einmal tief durch: Was stand auf dieser Internetseite über schlagfertige Antworten?

„Lieber dick als doof. Und wenn ich deine Meinung hören will, dann sag' ich dir Bescheid. Tschüssi", versuche ich möglichst selbstbewusst zu wirken, drehe mich um und stolziere Richtung Ausgang.

Tschüssi? Was Besseres ist dir nicht eingefallen???

Gina, die mich beim Ausgang einholt, hakt sich bei mir unter und fragt schmunzelnd: „Also? Was war das bitteschön? Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?"

Ich unterdrücke mir ein Lachen, denn in dem Moment fühle ich mich unfassbar stark. Ich strotze nur vor Selbstbewusstsein. Ahnungslos antworte ich: „Ähm. Sorry, aber ich bin schüchtern?"