„Marinette Dupain-Cheng!", rief Alya streng.
Marinette fuhr zu ihrer Freundin herum, die hinter dem Fahrradunterstand hervortrat. Sie schaute ihr mit weit aufgerissenen Augen ins Gesicht und stolperte über die eigenen Füße.
Alya schüttelte lachend den Kopf.
„Wenn das keinen Eintrag ins Klassenbuch gibt ...", sie strich sich die Haare nach hinten, „Du bist tatsächlich mal pünktlich."
Marinette rollte mit den Augen. Jemand zupfte an ihrer Jacke.
„Kann ich ein Autogramm haben?", piepste es zaghaft. Marinette schaute in das runde Gesicht eines Mädchens. Die blonden Haare waren zu zwei abstehenden Zöpfen, ähnlich den ihren, gebunden. Zögernd hielt sie ihr Filzstift und Block hin. Große, braune Augen schauten fragend zu ihr empor. Sie war anderthalb Köpfe kleiner als Marinette.
„Ow, ... ähm", Marinette blinzelte und brauchte einen Moment, um ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen.
„Bitte! Kannst du auch 'Für Clara' schreiben?"
Ihre Augen leuchteten erwartungsvoll, als Marinette den Stift ergriff und ihren Namen zu Blatt brachte.
„- Super! Du bist voll cool! Meine Freundin, Isa, wird gucken! Die traut sich nämlich nicht", fröhlich hopsend sprang sie davon und steuerte auf eine Gruppe weiterer Mädchen zu, die tuschelnd in ihre Richtung blickten.
„Oh, verstehe, du hast die Autogrammstunde eingeplant", gluckste Alya.
„Lass uns lieber gehen, bevor 'Isa' und ihre Freundinnen es sich anders überlegen", knurrte Marinette zwischen den Zähnen und stakste in Richtung des Eingangs.
Nino fing sie kurz hinter der Eingangstür ab und zog Alya in eine herzliche Umarmung. Marinette wippte auf ihren Füßen hin und her und spähte angestrengt die Treppe zur Straße hinunter.
„Übrigens: Adrien ist diese Woche krank. Scheint sich ziemlich was eingefangen zu haben", informierte Nino sie.
„Krank?", echote Marinette aufgeregt. „Weißt du, was er hat?"
Nino zuckte mit den Schultern.
„Ich hab ihn Freitag kurz nach der Ersten das letzte Mal gesehen. Schien da wohl schon loszugehen. Magendarm. Irgendsowas", er rückte sich die rote Basecap zurecht. „Und du, Marinette? - Scheint ja, als ob du ein aufregendes Wochenende hattest ", wechselte er zu vermeintlich unverfänglichen Themen.
„Aufregend", sie nickte unterstreichend, „jaaa, das ist die passende Umschreibung. Und wir sollten uns wohl langsam auf den Weg machen ...", sie erblickte weitere Schüler, die in ihre Richtung steuerten.
„Marinette ist der Star der Fünftklässler", streute Alya kichernd ein, „Tun wir ihr den Gefallen."
„Reden wir nicht weiter drüber", bat Marinette.
Alya zog belustigt eine Augenbraue hoch.
„Wie sieht's mit meinem Exklusiv-Interview aus?"
Marinette stöhnte hörbar und schlug sich die Handfläche vor die Stirn, bevor sie die Treppe zum Klassenzimmer erklommen.„Sieh an, sieh an, wer sich hierher traut", flötete es zu ihrer Linken.
„Chloé", das musste zur Begrüßung reichen. Ohne einen Blick an sie zu verschwenden, nahm Marinette Platz.
„Ganz recht, Erbsenhirn. Dank dir durfte ich am Wochenende die Schulregeln abschreiben."
„Es wissen wohl alle, dass Sabrina deine Handschrift perfekt beherrscht. - Kennt Madame Bustier überhaupt deine Handschrift?", erwiderte Marinette gereizt.
Alyas Mundwinkel wanderten nach oben.
Chloé öffnete den Mund zu einer Antwort, schloss ihn dann aber abrupt, als Madame Bustier im Türrahmen auftauchte.
„Guten Morgen!", sie legte das Klassenbuch und eine Schale mit Zetteln vor sich ab, „Wie ihr sicherlich wisst, beginnt heute unsere Projektwoche. In diesem Jahr lautet das Themengebiet 'Märchen, Mythen und Sagen'", sie schrieb den Titel in großen Lettern an die Tafel. „Ihr werdet zu zweit daran arbeiten", ihr Blick überflog die Klasse. „Nino? Da Adrien erkrankt ist, arbeitest du mit Alya und Marinette zusammen."
Sie fuhr fort:
„Der Titel der Ausarbeitung wird ausgelost", sie verwies auf die Schale. „Ich erwarte eine Länge von 30 Seiten in Form einer wissenschaftlichen Ausarbeitung und eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte auf DIN A 0", sie hob den Zeigefinger, „Bevor ihr euch lediglich auf das Internet als Quelle beruft: Die Uni-Bibliothek bietet Material in Hülle und Fülle.", sie schrieb weitere Informationen über Gliederung und Format an die Tafel, bevor sie die Schüler, die am Zwischengang saßen, einen Zettel aus der Schale nehmen ließ.
Chloé ließ sich lange Zeit und griff erst nach einem Stirnrunzeln Madame Bustiers in die Schale.
„Ägyptische Mythologie und Totenkult?", sie hob empört die Arme, „Gibt es nicht auch etwas weniger Angestaubtes?"
Madame Bustier ignorierte sie.
Marinette erwischte den Zettel mit dem Thema „Das Nibelungenlied – Ursprünge und Gemeinsamkeiten in anderen Sagen" und stöhnte.
„Ägyptische Mythologie hätte ich mit Kusshand genommen", flüsterte Alya Marinette zu. Ohne Zweifel, sie hätte gerne über die antike Ladybug geschrieben.
Mylène und Alix fiel das Thema „Griechische Mythologie und philosophische Einflüsse" zu. Ihren Gesichtszügen nach zu urteilen, waren auch sie nicht begeistert.
Ivan wurde mit Nathanël zusammen eingeteilt. Ihr Thema behandelte den Mythos um Vampire und Werwölfe in Literatur und Geschichte.
„Yeah, Dracula!", Ivan ballte die Faust zum Abklatschen in Nathanëls Richtung. Dieser erwiderte die Geste nur zögernd.
„Tzeh! 'Frankenstein trifft Freak' wäre für euch passender", tönte Chloé.
Ivans Gesicht verfinsterte sich.
„Bei dir passt 'Hexenverbrennung'!", knurrte er.
„Schluss damit", mahnte Madame Bustier in beide Richtungen.
Schnaubend drehte sich Chloé zu ihrer Freundin Sabrina, weitere Einwürfe blieben aus.
Kim und Max bekamen die Aufgabe, sich mit irischen und schottischen Legenden auseinander zu setzen, während Rose jubilierte, als sie mit Juleka die psychologischen Aspekte der Grimmschen Märchen beleuchten sollte.„Was ist das 'Nibellungenlied' eigentlich? Ist das wirklich ein Lied in dem Sinne?", wandte sich Nino zu ihnen.
Marinette kratzte sich verlegen über dem Ohr. „War das nicht eher ein Gedicht, oder so was?"
„Ging es da nicht um einen Drachen und um einen Schatz?", fragte Alya.
„So wie in 'Der Hobbit'? Hey, vielleicht wird es doch nicht ganz so öde!", streute Nino ein.
Sie kicherten.
„Adrien hat's gut. Der muss sich vor den Sommerferien nicht mehr damit quälen", mit deutlich weniger Enthusiasmus schulterte er seine Tasche. „Na, kommt schon, Mädels. - Finden wir es heraus."***
Sie taumelte zurück und wollte sich an der Wand abstützen. Nur für einen kurzen Moment, um die Vorkommnisse zu verdauen. Sie schloss die Augen.
Irgendetwas schnürte sich um sie und zwang sie zu einer geraden Haltung.
Die Wand fühlte sich nicht so an, wie sich eine Wand anfühlen sollte. Da war das Gefühl von Sonne und feuchter Erde. Die Luft roch feucht-warm, wie nach einem Sommerregenschauer. Sie hatte das Gefühl, den Puls des Lebens zu spüren und sog ihn in sich auf. Ein buntes Knäuel aus Blättern, Blüten und Licht bildete sich in ihrer Vorstellung.
Ihre Augen öffneten sich. Sie blinzelte verwirrt. Ihre Hand versank in den Tiefen eines Plakates, das die „magische Gartenschau" umwarb. Ruckartig riss sie sie zurück.
Das Bild kratzte an ihrem Verstand, verärgert schnalzte sie mit der Zunge und wollte es verdrängen, so schön der Moment auch war, es war nicht der Moment für Tagträume.
Es klappte nur nicht. Die Vorstellung eines, nein, DES perfekten Gartens hielt sich hartnäckig in ihrem Hirn. Sie drängte sich gegen ihre Schädelwand, drückte und schob und intensivierte den Druck. Der Teil von ihr, der noch Adelaide war, keuchte auf. Sie rieb sich die Schläfen, die Stirn und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Sie kniff die Augen zusammen und krümmte sich nach vorn.„Ist alles mit Ihnen in Ordnung, Madame?", eine Männerstimme drang an ihre Ohren.
Er roch ängstlich. Wie konnte das sein? Seit wann konnte sie Gefühle riechen?
Sie öffnete die Augen. Ihre Sinne spielten entweder völlig verrückt, oder aber Frankreich hatte in neue Camouflage-Uniformen investiert.
Die Uniform des ihr gegenüberstehenden Soldaten irisierte in den unterschiedlichsten Grüntönen. Die Farben verwoben sich, bildeten neue Muster.
Er strauchelte erschrocken zurück und verhedderte sich den Fahrrädern, die geräuschvoll mit ihm zu Boden gingen.
Das metallische Scheppern fraß sich durch ihr Gehör. Intensivierte sich mit den Eindrücken des Plakates und dröhnte in ihrem Schädel. Ihre Augen pulsierten schmerzhaft. Etwas in ihr suchte nach dem geringsten Widerstand und ließ sie den Kopf zurückwerfen. Es zwang sie, den Mund zu öffnen und raubte ihr beinahe den Atem. Es wand sich über ihre Zunge, zwang ihren Kiefer in die Knie, bis er aushakte.
„Au Backe!", schrie der Soldat in blanker Angst. Er strampelte mit den Beinen, versuchte panisch wegzukommen. „Was ist DAS denn?!"
Ein schwarzer Sturm aus Drucklettern strömte aus ihr empor und wirbelte auf den Soldaten zu.
„Neeeeein!", sein Schrei wurde vom Summen tausender Buchstaben verschluckt.
Stille legte sich über ihn.
Sie blickte auf ein paar dunkelgrüne, kniehohe Gummistiefel. Eine grüne Arbeitslatzhose, ein Sonnenhut und eine Gießkanne wiesen den Mann vor ihr als Gärtner aus. Ein ziemlich durchtrainiertes Exemplar sogar.
Einem Impuls folgend, wollte sie mit der Zunge schnalzen. Stattdessen verließ ein Zischen ihre Lippen. Verärgert zog sie die Augenbrauen zusammen.
Entweder genossen die heutigen Soldaten eine Spezialausbildung im Tarnen oder etwas anderes war hier im Busch. Sie blickte verwirrt zurück auf das Plakat.
Aha. Da war er also. Auf Papier gebannt mit Bartwuchs in allen Himmelsrichtungen, den Mund zum Schrei weit aufgerissen und mit irrem Blick starrte er ihr entgegen. - Wenn das die neue Rekrutenwerbung sein sollte, na dann – gute Nacht! Der Mann vor ihr war also, mit ihrer Hilfe, dem Plakat entstiegen.
Der Gärtner zu ihren Füßen begann sich zu regen.
„Das war nicht geplant, aber gut. Countess, unterweise ihn!", raunte ihr die Stimme im Kopf zu.
Gut.
„Du da!", sprach sie ihn generalstabsmäßig an, „Kümmere dich um den Eingangsbereich. Es soll einladend aussehen und die Leute magisch anziehen! Ein paar neue Akzente dürften dem Ganzen hier gut tun!"
Der Bursche verneigte sich steif und tat wie befohlen.
Zum ersten Mal von sich als 'Countess' denkend, sah sie an sich hinab.
Ihr Oberkörper steckte in einer Art Korsett, darunter wallte ein Rock mit schwarzem Rüschenbesatz. Ihre Hand fuhr nach hinten und ertastete etwas Hartes über das sich Stoff und Rüschen förmlich türmten. Ein Kissen? - Sie steckte in einem aufsehenerregendem Tornürenkleid. Einzig und allein die Farbe war in einem zurückhaltendem Grau gehalten. Mehr noch, das Grau schien ihr unter die Haut gekrochen zu sein. Ihre echsenartige Struktur schimmerte in der Sonne.
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Countess of Boredom
FanfictionEine akumatisierte Bibliothekarin versetzt Paris in Angst und Schrecken. Während sich Adrien langsam von den Konsequenzen der zusammengeführten Miraculous erholt, herrscht zwischen Alya und Marinette dicke Luft. Luka Couffaine findet ein neues Mirac...