Begegnungen

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Alya musterte den Gärtner verstohlen, wie er die Hände in den Blumenbeeten vor der Bibliothek vergrub.
Nino runzelte die Stirn und zog sie dichter zu sich heran.
„Merkwürdig. Hast du das auch gesehen?", wandte sie sich an ihn, „Ich hätte schwören können, dass er Wurzeln statt Hände hat", tuschelte sie, nur für Nino hörbar.
„Manchmal siehst du Dinge, die nicht vorhanden sind", merkte Marinette im Vorbeigehen an und verharrte im Eingangsbereich.
Nino schüttelte den Kopf, wohl wissend, auf was Marinette anspielte. Alya hatte ihm die Vorkommnisse des vergangenen Wochenendes haarklein wiedergegeben. Er bezweifelte, dass es eine Zeitung gab, die seine Freundin nicht nach Informationsbruchstücken durchsucht hatte. Er wollte nicht über Marinettes Abenteuer sprechen – nicht schon wieder.
Alyas Augen folgten Marinette. Ihr schien eine passende Bemerkung auf der Zunge zu liegen. Er trat einen Schritt vor sie. Ihre Augen sprühten vor Energie. Kurz zuckten sie zur Seite, danach fokussierte sie ihren Blick auf ihn und hob fragend die Augenbrauen. Langsam senkte er den Kopf. Er hatte das Gefühl, in ihren Augen zu versinken. Alya lächelte. Er spürte, wie ihre Anspannung nachließ. Es schien, als würde sich ihr Wimpernschlag verlangsamen. Die Welt stand einen kurzen Moment lang still, als er seine Stirn gegen ihre lehnte, beide die Augen schlossen und sie sich einfach nur an den Händen hielten.
„Kommt schon!", stöhnte Marinette. Sie lehnte ungeduldig an der Tür zum Eingangsbereich.
Mit einem sanften Kuss auf Alyas Nasenspitze löste Nino den Moment auf. Sie lächelte ihn an. Als ihr Blick kurz darauf Marinette streifte, lag darin etwas Abwartendes.
In der Bibliothek roch es nach Tabakrauch. Nicht unangenehm, aber da war diese feine Note, die in der Luft hing.
Nino erfasste zielstrebig die Tischreihe mit den Terminals.
„Ni-bel-ung-en-lied", sagte er im Rhythmus zu seinen Fingern, die über die Tastatur glitten. Alya beugte sich über seine Schulter und warf einen Blick auf die Ergebnisliste. Er kritzelte Namen und Signaturen nieder.
„Da hilft nur Nachfragen", schlussfolgerte Alya, als sie keinen Lageplan entdecken konnte und wollte sich bereits auf den Weg machen, als Nino sie zurückhielt.
„Ich mache das", entgegnete er schlicht und sah ihr sehr bestimmt in die Augen, bevor er zum Empfangstresen hinüberging.
Die Bürostühle waren verwaist und es war niemand in Sicht. Er drückte auf die Türklingel.
„Ja-ja, ich komm ja schon ..." fauchte es aus einer abgetrennten Nische. „Ein alter Mann ist kein D-Zug!"
Blauer Rauch schwebte zu Nino herüber, als sich ein untersetzter Mann mit Brille auf ihn zubewegte. Gemächlich führte er die Pfeife zurück an den Mund. Seine andere Hand hielt ein dickes Buch mit Ledereinband. Nino blinzelte irritiert.
„Was, willst du Jungspund mir auch einen Vortrag übers Rauchen halten?!", knurrte der Alte ihn an, „Stell mir deine Frage – oder besser: Verschwindet einfach."
Er stützte das Buch mit der Rückseite auf dem Tresen ab und zog die buschigen Augenbrauen verärgert zusammen.
Ninos Kinn sackte nach unten. Er atmete laut aus.
„E-entschuldigung. Ich ... wir haben Projektwoche."
„Siehst mir auch nicht aus, wie einer, der sonst hier rumschleicht. Komm zum Punkt", sprach er um den Pfeifenstiel herum und starrte ihm über die Brille hinweg in die Augen.
Nino schob ihm den Zettel mit den Signaturen hinüber. Der Alte würdigte den Zettel kaum eines Blickes.
„Denke, das wird sich im Nordflügel finden. Wenig los dort, könnte euer Vorteil sein", er nickte kurz in die Richtung, in der Alya und Marinette standen, die sich mit verschränkten Armen gegenüberstanden und sich vorsichtig beäugten.
Nino blinzelte mit beiden Augen.
Der merkwürdige alte Kauz winkte ab und schlurfte leicht gebeugt wieder davon, sein Buch in der Hand haltend. Etwas auf dem Einband blitzte metallisch auf.
Nino verharrte noch einen Moment lang sprachlos am Tresen. Dann wandte er sich um.

„... zugeben müssen, dass es so aussieht, als ob ... Wo schon die Presse darauf aufmerksam wurde", schnappte Nino den letzten Satz von Alya auf, die auf Marinette einredete. Diese rollte entnervt mit den Augen, stemmte die Hände in die Hüfte und pustete gegen ihren Pony.
„Ähm, Mädels? Scheint so, als ob ihr unfreiwillige Zuhörer habt", platzte Nino dazwischen. Er deutete wage in Richtung des blauen Dunstkreises. „Der Bibo-Typ ist echt 'n mürrischer Kerl. Ich schwöre, irgendwo hab ich den schon mal gesehen. Ich komm nur nicht drauf" Er hob kurz den Notizzettel. „Soll alles im Nordflügel sein. Wo auch immer das ist."
„Vielleicht steht was im Treppengebäude?", schlug Marinette vor, während Alya noch ihr Handy bemühte.
„Guter Ansatz", stimmte Alya zu und schnappte sich den Zettel. Gemeinsam nahmen sie Kurs auf die Doppelflügeltür.
Im Eingangsbereich stieg der Geräuschpegel etwas an, als eine Gruppe ABC-Schützen hereinspazierte.
„Himmel-Herrgott-noch-mal! Bin ich in einer U-Bahnstation oder in einer Bibliothek ...", hörten sie den Bibliothekar fauchen, bevor sich die Tür hinter ihnen schloss.
„In der Tat: ziemlich übellaunig!", kommentierte es Marinette.
Alya und Marinette probierten sich an einem vorsichtigen Lächeln. Immerhin schienen sie sich in dem Punkt einig zu sein. Nino atmete hörbar auf. Das letzte, was er wollte, war zwei sich anzickende Freundinnen. Zumindest nicht solange er dazwischen saß.
„Wie es Adrien wohl geht", streute Marinette ein. Sie blickte schaute sorgenvoll vor sich hin.
Nino zuckte mit den Schultern. Er zückte sein Handy und schaute aufs Display. „Hab noch nichts weiter von ihm gehört." „Aber etwas Unterstützung von ihm wäre gut. Er weiß bestimmt, wie er das hier ins Lot bringt", dachte er im Stillen. Einen Fuß vor den nächsten setzend, folgte er Alya und Marinette, während er eine Textnachricht an Adrien verfasste:
„Jo, Bro!
Wie geht's? Sind in der Bibo, Nordflügel. Sieht so aus, als ob Alya und Marinette Stress miteinander haben. Keine Ahnung, was ich tun kann. Lass von dir hören. Nino"
„Immerhin muss er sich nicht mit den Nibelungen abplagen. Vermutlich wüsste er mehr darüber als wir drei zusammen", merkte Alya an und wandte sich kurz zu ihrer Freundin um.

Countess of BoredomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt