Ein Sommertagstraum

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Seit Stunden hing sie in diesem abgenutzten, staubigen Kasten mit seinen wurmstichigen Altlasten fest.
„Auch du, Chloé", hatte Madame Bustier sehr bestimmt gesagt. Sie hatte ihr bis zu ihrer Ankunft im Nacken gehangen und sichergestellt, dass sie sich nicht verfrüht in den Schulschluss begab.
„Hrrrm", gab sie erzürnt von sich. „Diese Demütigung!", fügte sie gedanklich an.
Dagegen ließ sich zur Zeit wenig unternehmen.
'Papilein' hatte ihr am Wochenende zu verstehen gegeben, dass er gegen die völlig überzogene Vorgehensweise ihrer Klassenlehrerin nicht einschreiten wollte. Als er Zeuge wurde, wie Sabrina die Schulordnung für sie abschrieb, hatte er jedoch geflissentlich weggeschaut.
„Sabrina, 'LA MODE' – mein Modemagazin!", rief sie ihrer Freundin im Befehlston zu.
Wie ein ergebenes Hündchen spähte Sabrina hinter den Regalen hervor und nickte eifrig. Mit einer Bewegung aus dem Handgelenk scheuchte Chloé sie davon. Abschließend besah sie sich den Zustand ihrer Nägel.
„Das wird Sabrina anschließend richten", dachte sie selbstgefällig.
Gelangweilt ließ sie ihren Blick schweifen, bevor sie ihr Handy zückte.
„Oh, Adrie-Cherie", seufzte sie und hauchte dem Display einen Kuss entgegen. „Es ist nicht auszuhalten ohne dich ..."
Jemand rempelte ungeschickt gegen den Tisch, an dem sie saß.
Ein Stapel alter Bücher wurde schwungvoll abgeladen. Der Turm geriet bedenklich ins Schwanken und ergoss sich über die Tischplatte. Ein abgegriffenes Exemplar über ägyptische Kultur landete in Chloés Schoß. Sie hüstelte gekünstelt und zerteilte die Luft vor ihr mit den Händen.
„Sabrina! Hast du eine Ahnung, wie teuer mein Outfit wahr?!", rügte sie den Fehltritt und wies an sich hinab. „Dieses faulige Pappstück ist voll von Motteneiern und Krankheiten!"
Chloé betrachtete das Buch in ihrem Schoß, wie ein ekelerregendes Insekt.
Sie zückte ein Taschentuch und legte es auf den Einband, um das Buch mit Daumen und Zeigefinger auf den Fußboden zu schleudern.
Ein älterer Herr schüttelte missbilligend den Kopf und machte mit einem empörten „Scht!" auf sich aufmerksam.
Chloé rollte mit den Augen und reckte das Kinn. Mit einer schwungvollen Bewegung warf sie den Zopf zurück.
„Geh und hole mir mein Magazin! Ich will mich während der Projektwoche, nicht unnötig langweilen", beschied sie und scheuchte ihre Freundin erneut davon.
Sabrina nickte eingeschüchtert, bevor sie in Richtung der Schließfächer eilte.

***

Der Lederhandschuh knarzte bedenklich, als er den Knauf seines Gehstocks fest umklammerte.
„Ladybug", grollte er. „Um ein Haar wärst du mein Opfer gewesen!"
Hawk Moths Augen verfinsterten sich.
„Doch ein neuer Superheld", raunte er mit stählener Sanftheit, „ich gewähre dir noch etwas Gnadenfrist. Lass mich schauen, zu was er fähig ist! Vielleicht lässt es sich gewinnbringend nutzen ..."
Entschlossen lenkte er seine Aufmerksamkeit auf Emotionen außerhalb des Gebäudes und legte einen neuen Kurs für den Akuma fest.

***

Als Bücheregale mit Unheil verkündendem Ächzen aufeinander trafen, wirbelte sie herum. Schemenhaft nahm sie wahr, wie etwas Rotes davonhuschte.
„Ladybug!", zischte die Countess.
Sie war hier. Schlimmer noch, sie war ihr entwischt. Sie war so stark auf die drei Störenfriede fixiert gewesen, dass sie ihr Kommen nicht bemerkt hatte.
"Komm und zzzzeig dich!", kreischte sie und fuchtelte mit ihrem eingeklappten Schirm wild durch die Luft.
Ein Schnarchen drang an ihre Ohren.
"Oh wehe, wenn sich dieser kleine Teufel noch einmal wagt, sich über mich lustig zu machen ...", grollte sie und fuhr herum.
Auf dem Boden vor ihr befanden sich drei Hundewelpen. Schnarchend und schmatzend lagen sie eingerollt in ihren Hütten. Jede Hütte war in einer Farbe
gehalten: rot, blau und rosa.
Die Countess zischte verärgert. Es war nicht das, was sie erwartet hatte.
In eine der Hütten kam langsam Leben.
Neugierig und verwundert setzte sich einer der drei, ein kleiner Dalmatiner, auf.
„Wo bin ich?", meldete er sich mit hoher, kindlicher Stimme zu Wort. "Ich glaub, mit den Leckerlis war etwas nicht in Ordnung. Das hier ist jedenfalls nicht Adventure Bay", stellte er fest und kratzte sich am Kopf. Sein Feuerwehrhelm rutschte ihm über die Augen. Torkelnd eierte der Welpe umher, stolperte über eines der Bücher und fiel der Länge nach hin.
„Großartig. Sprechende Hunde. Heutzutage muss man mit allem rechnen!", dachte die Countess im Stillen und beobachtete mit gerunzelter Stirn das Geschehen.
„Autsch. - Nichts passiert!", rief er laut aus.
Daraufhin begannen sich auch die Bewohner der anderen zwei Hütten zu regen.
"Ryder?", fragte der kleine Unglücksrabe in die Stille der Bibliothek und blickte mit großen Augen um sich. "Was ist denn hier passiert?", fragte er mit Blick auf die umgestürzten Regale.
"Marshall?", erklang eine verschlafene Stimme aus der rosa Hütte.
Ein Schoßhund mit rosa Weste streckte sich und trat aus seiner Hütte. "Wo sind wir?", fragte sie verwundert.
"Skye!", rief ihr der Dalmatiner aufgeregt zu und rannte direkt in die Countess hinein.
"E-Entschuldigung", stotterte er.
Als er das reptilartige Gesicht erblickte, setzte er unweigerlich einige Schritte zurück. "Tut mir wirklich leid, Frau Schlange."
Die Countess blinzelte erstaunt und setzte dazu an, sich zu ihm hinunterzubeugen.
Der Welpe trat die Flucht an.
Ihre Hütten im Rücken, reagierten die Hunde mit unsicherem Lächeln.
Der größte Welpe in der Runde, offenbar ein deutscher Schäferhund, schritt mit erhobenem Kopf voran und nahm schützend vor den beiden anderen Position. Er räusperte sich vernehmlich und rückte sein Halsband zurecht. Ein gelber Stern blitzte auf seiner Hundemarke auf. Er steckte in einer blauen Weste.
„Mein Name ist Chase. Ich bin ein Vier-Pfoten-Agent!", verkündete er.
Die Countess blinzelte erneut.
Die Hunde wichen ein paar Schritte zurück.
„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Vielleicht sollten wir besser wegrennen", flüsterte der kleinste Hund, Skye.
„Agenten, also", echote die Countess und ignorierte die letzte Aussage.
"Ganz recht", bestätigte Chase und verfolgte jede ihrer Regungen.
Ihre Augen flackerten kurz auf, als sich Hawk Moth ihrer Gedanken bemächtigte und die weitere Vorgehensweise einschleuste.
„Nicht ganz das, was ich erwartet habe, Countess. Mache dir ihre Fähigkeiten zunutze!", befahl er ihr, unhörbar für alle anderen.
Sie faltete ihre Hände ineinander und wog ihre Worte ab. Sie ahnte, wie angsteinflößend sie auf andere wirken musste.
„Das trifft sich gut. Ich brauche einen guten Spürhund. Mein Siegelring und meine Ohrringe sind verschwunden", sprach sie um einen freundlichen Tonfall bemüht. Die Lüge huschte ihr erstaunlich leicht von den Lippen.
„Jedes der Schmuckstücke ist von unschätzbarem Wert. Ohne sie kann ich nicht dorthin zurückkehren, wo ich herkomme", fügte sie an. „Ausgerechnet zwei Menschenkinder haben sie sich zu eigen gemacht und begehen damit 'Heldentaten' in Paris", endete sie theatralisch und seufzte schwermütig.
„Sie kommen nicht von hier?", bohrte der Polizeihund kurz angebunden nach.
„Nein. In meine Heimat hat bislang kein Sterblicher einen Fuß gesetzt. Ich habe keine Ahnung, wie ich hierher geraten bin", log sie. Sie wies auf das Buch aus dem sie die drei Welpen herausgelöst hatte: „Ist das 'Adventure Bay'?"
Der Schäferhund kam vorsichtig näher.
„Sieht ganz danach aus", bestätigte er, als er die Zentrale der "Paw Patrol" auf dem Cover erkannte. Sein Blick fiel auf eine Mutter und ihre zwei Kinder, die sich ebenfalls auf dem Coverbild befanden.
„Die drei habe ich noch nie gesehen", merkte er an.
„Es tut mir schrecklich Leid", jammerte die Countess, „ich bin gestolpert und habe sie versehentlich in eure Welt übertragen. Das ist mir heute schon ein paar Mal passiert. Ich hätte es vorhin beinahe geschafft, das Mädchen zu überwältigen, aber sie ist mir entwischt. Wenn ich doch nur meine Artefakte hätte, damit wäre es mir ein Leichtes, all das Chaos zu beseitigen."
„Sie meinen den Ring und die Ohrringe?", fragte der Dalmatiner und kam ein paar Schritte näher.
Offenbar war das Eis gebrochen.
„Der Ring und die Ohrringe haben magische Kräfte. Sie verwandeln ihren Träger in Superhelden", erklärte sie, bevor sie den Blick auf den Boden richtete und die Schultern hängen ließ.
„Ein klarer Fall für Chase!", schloss der Polizeihund.
„Paris ...", flüsterte die kleine Hündin und klimperte verträumt mit den Augen. „Wir sind in Paris, der Stadt der Liebe!"
Sie absolvierte aus dem Stand heraus einen Salto.
„Wie sehen diese Kinder denn aus?", fragte Chase.
„Beide sind maskiert. Das Mädchen trägt einen hautengen roten Anzug mit schwarzen Punkten, der Junge einen schwarzen Lederanzug. Sie nennen sich 'Ladybug' und 'Cat Noir'", schloss sie spöttisch. „Wie sie ohne Heldenanzug aussehen, weiß ich nicht. Es kam so überraschend. Auf einmal war ich hier", sie pausierte und machte eine alles umfassende Geste. „Etwas traf mich am Kopf. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist, wie ich auf dem Boden zu mir gekommen bin. Und der Schmuck -", sie unterbrach sich und vergoss ein paar Krokodilstränen.
„Keine Sorge", wandte sich der Dalmatiner an sie, „Chase hat eine sehr empfindliche Nase."
„Ich hoffe nur, 'Cat Noir' riecht nicht nach echter Katze", murmelte Chase.
Der Dalmatiner kicherte: „Chase ist allergisch gegen Katzen", erklärte er.
„Marshall, Skye, wenn zwei Superhelden hier ihr Unwesen treiben, brauche ich eure Unterstützung", wandte sich Chase an die zwei Welpen. „Skye, du suchst den Luftraum nach ihnen ab. Marshall, dein Wasserwerfer könnte von Vorteil sein", erteilte er Befehle.
„Diese Pfoten haben Flügel!", säuselte Skye, sprang in die Luft und klatsche in ihre Pfoten.
Marshall bellte aufgeregt.
„Paw Patrol, der Einsatz läuft!", klang es zeitgleich aus drei Kehlen.
Zielgerichtet sprang jeder von ihnen in ihre Hundehütte und setzte irgendeinen Mechanismus in Gang. Die Hundehütten verwandelten sich in ein Flugzeug, ein Feuerwehrauto und ein Polizeiauto.
Unter Geheul fuhren sie davon. Die Countess fuhr sich mit den Händen an ihre Ohren, als die Sirenen der Fahrzeuge erklangen.

Countess of BoredomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt