Kapitel 1: Angekommen und verlaufen

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POV Klara
Dass mein Flieger Abends landen würde, wusste ich von Anfang an. Und ich wusste auch, dass Ayame, bei der ich ein Jahr verbrachte, um mein Japanisch zu verbessern, und welche gleichzeitig eine Freundin von mir war, mir den Weg erklärt hatte. Vom Flughafen aus sollte ich zur Mita Station fahren. Eigentlich ganz einfach, nur dass ich den letzten Zug verpasst hatte. Also hatte ich keine andere Wahl, als meinen schwarzen Koffer, unter dem zum Glück Rollen befestigt waren und der, ebenfalls zum Glück, abgesehen von meiner dunkelblauen Handtasche mein einziges Gepäck war, hinter mir über die Straße zu ziehen. Nach einer Weile ging ich an den Straßenrand, damit ich niemanden im Weg stand und kramte in meiner Handtasche. Es wäre wohl das Beste, wenn ich Ayame anrief und sie bat, mich abzuholen. Doch als ich das tun wollte, musste ich feststellen, dass der Akku leer war. Ich hatte ihn doch aufgeladen, was sollte das? Seufzend steckte ich das Gerät wieder in die Tasche und ging weiter. Konnte ja eigentlich nicht so schwer sein, den Weg zu finden, dachte ich.

Ich musste bereits einige Stunden durch Tokyo irren, denn inzwischen war es dunkel und die Straßen leer. In dem Moment bereute ich es, niemanden nach dem Weg gefragt zu haben. Jetzt war keiner mehr da und ich fühlte total hilflos in dieser großen, mir unvertrauten Stadt. Und wie spät war es eigentlich mittlerweile? Das Einzige, was ich in diesem Moment wusste, war, dass ich müde war und das nicht wegen dem Jetlag, schließlich hatte ich fast den ganzen Flug lang geschlafen. Und wo musste ich jetzt eigentlich lang? Schon wieder stand ich an einer Kreuzung und wusste nicht weiter. Auf gut Glück ging ich nach links und hoffte inständig, jemanden anzutreffen. Ich brauchte Hilfe und das möglichst schnell, wenn ich heute Nacht ein Dach über dem Kopf haben wollte. Bei meinem Glück war ich wahrscheinlich nicht einmal in der Lage, ein Hotel zu finden. Wenn ich so darüber nachdachte, konnte ich mich auch nicht daran erinnern auf dem Weg eins gesehen zu haben. Wieder musste ich mich für eine Richtung entscheiden, links oder rechts. Ich ging wieder nach links. Nach einer Weile kam vor mir jemand aus einer der Seitenstraßen. Er ging vor mir und in die gleiche Richtung wie ich.

"Excuse me!", rief ich dem Mann in der grauen Jacke hinterher. Natürlich konnte ich das auch auf Japanisch sagen, aber bei dem Rest war ich mir leider nicht sicher, da ich aufgrund meiner Müdigkeit nicht richtig denken konnte. Deshalb ging ich lieber auf Nummer sicher. Er reagierte jedoch nicht, weshalb ich nochmal rief, woraufhin er stehen blieb und mich über seine Schulter ansah. Ich beschleunigte meine Schritte und war innerhalb von ein paar Sekunden bei ihm. Er war größer als ich. Seine Haare waren schwarz, kurz und unordentlich und er trug eine Brille. Außerdem fand ich, dass er ein hübsches Gesicht hatte, doch den Gedanken schob ich schnell beiseite. "Können Sie mir bitte helfen? Ich habe mich verlaufen", fragte ich ihn auf Englisch.

"Wohin wollen Sie denn?", kam es höflich und in der gleichen Sprache zurück.

"Zur Mita Station", antwortete ich.

Er nickte. "Folgen Sie mir, ich muss sowieso in diese Richtung", sagte er, drehte sich um und ging los.

"Okay", meinte ich nur, folgte ihm aber, da ich im Moment keine bessere Option hatte.

Wir gingen eine gefühlte Ewigkeit schweigend nebeneinander her. Die Stille machte mich nervös. Einerseits sah er nicht gerade so aus als könnte man wirklich mit ihm reden, aber es erschien auch unhöflich es zu lassen. Aber wenn er nicht mit mir reden wollte und ich ihn trotzdem ansprach, war das nicht in irgendeiner Weise aufdringlich? Ich warf ihm einen Blick von der Seite zu, schaute aber sofort weg, als er plötzlich den Kopf drehte und mich anschaute. Dachte ich wirklich, er hätte das nicht gesehen? War ich ein Idiot!

"Ist etwas?", fragte er mich.

"Nein", ich schüttelte den Kopf, ergriff aber auch die Chance, ein Gespräch anzufangen. "Ich wollte nur fragen, wie viel Uhr es ist", sagte ich und es erschien nun gerade so, als hätte ich Angst, ihm diese Frage zu stellen. Nun, etwas einschüchternd fand ich ihn schon, aber ich hatte sicher keine Angst, ihn nach der Uhrzeit zu fragen!

Er hob seinen linken Arm und zog den Ärmel zurück. "Halb zehn", war die einzige Antwort, die ich erhielt.

"Oh", machte ich daraufhin nur. Ich hätte schon um sechs Uhr bei Mita sein sollen.

Eine Reaktion in Form einer Nachfrage erhielt ich darauf zum Glück nicht. Meine Motivation, ihm den Grund für mein 'Oh' zu nennen, hielt sich in Grenzen. Überhaupt, erhielt ich gar keine Reaktion. Gehört hatte er mich aber, da war ich sicher. Vielleicht war das aber auch besser so, denn ich konnte jetzt das Thema wechseln.

"Wie ist es eigentlich in so einer großen Stadt?", fragte ich.

"Was meinen Sie?", fragte er zurück.

"Na ja, ich komme vom Land. Das ist alles ziemlich ungewohnt für mich", erzählte ich, kam aber nicht umher, mich zu fragen, ob es ihn überhaupt interessierte. Wahrscheinlich nicht wirklich und davon ging ich von Anfang an aus, aber in Wirklichkeit schien es den Schwarzhaarigen überhaupt nicht zu interessieren.

"Ich habe schon immer hier in Tokyo gelebt, aber ich denke, Sie gewöhnen sich daran", antwortete er mir und bevor ich etwas erwidern konnte blieb er plötzlich stehen. Wir standen an einer Kreuzung. "Mita ist in der Richtung", erklärte er und zeigte nach rechts, "Nehmen Sie die dritte Straße nach rechts und dann sollten Sie die Station bald sehen."

"Vielen Dank!", bedankte ich mich, höflich aber auch glücklich. Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen gewesen.

"Gern geschehen." Mit einem kleinen Lächeln verabschiedete er sich von mir und bog in die Straße links von uns.

Für ein paar Sekunden blieb ich noch stehen und schaute ihm hinterher. Hoffentlich waren alle hier so nachsichtig mit mir. Schließlich drehte ich mich um und folgte seiner Wegbeschreibung. Tatsächlich war ich bald an der Mita Station. Ayame, welche ich an ihrem hellblauen Haar, das nach unten hin lila wurde, stand bereits dort und redete mit einem anderen Mädchen. Eine Freundin von ihr? Die Schwarzhaarige zeigte auf mich und Ayame drehte sich um. Sie kam auf mich zugerannt und fiel mir sofort erleichtert um den Hals.

"Wo warst du? Warum bist du nicht rangegangen? Ich habe dich die ganze Zeit angerufen!", löcherte sie mich mit Fragen. Sie sprach Deutsch mit mir. Das überraschte mich aber wenig. Zwar lebte sie schon ziemlich lange in Japan, aber die Schule hatte sie in Deutschland gemacht. Davon abgesehen lebte ich mittlerweile auch nicht mehr in Deutschland, sondern in Österreich, wo ich studierte.

"Der Akku war leer und dann habe mich total verlaufen. Es tut mir echt leid!", erklärte ich und erwiderte ihre Umarmung.

"Ich hätte beinahe eine Vermisstenanziege deinetwegen aufgegeben!" Ayame meinte es ernst und ich verstand sie. Ich hätte mir auch Sorgen gemacht.

Da bemerkte ich, dass das andere Mädchen neben uns stand.

"Hi", sagte sie.

Ich löste mich von Ayame. "Hallo, tut mir echt leid, dass ihr so lange warten musstet."

Ich erhielt einen fragenden Blick. Dann erst bemerkte ich, dass ich gerade Deutsch gesprochen hatte, was sie natürlich nicht verstand. "Entschuldigung", sagte ich schnell, allerdings war Ayame noch etwas schneller als ich und übersetzte ihrer Freundin das Gesagte rasch.

Das Mädchen lachte. "Nicht so schlimm, du bist ja jetzt hier. Ich bin Mizushima Suzume. Freut mich, dich kennenzulernen!"

"Ich bin Klara Wagner", stellte ich mich vor - diesmal benutzte ich die richtige Sprache. "Also... Wagner ist mein Familienname", fügte ich noch hinzu.

Suzume nickte. Danach machten wir uns auf den Weg zur WG der beiden. Oder besser gesagt, der drei, dort war schließlich noch ein anderes Mädchen. Namiko Mizushima, aber die schlief schon als wir ankamen. Laut Suzume hatte sie schon geschlafen als Ayame sie um sieben Uhr angerufen hatte. Nachdem wir leise die Tür hinter uns abgeschlossen hatten, ging ich mit Suzume direkt ins Schlafzimmer, während Ayame noch die Fenster schloss. Ich stellte den Koffer in eine Ecke, wo er nicht störte, und holte meine Schlafsachen und das Täschchen mit meiner Zahnbürste und Zahnpasta raus.

"Du bist sicherlich froh, dass du nicht viel mitgenommen hast", bemerkte Suzume. Ich verstand nur die Hälfte, dachte mir den Rest aber und nickte. Sie muss es wohl bemerkt haben, weshalb sie sich nochmal auf Englisch wiederholte, aber ich nickte wieder nur und machte mich auf den Weg ins Bad. Umgezogen, mit geputzten Zähnen und knurrendem Magen legte ich mich schließlich ins Bett. Die Wohnung war höchstens groß genug für zwei Personen, weshalb Ayame, Suzume und Namiko beschlossen hatten, sich ein Zimmer als Schlafzimmer zu teilen und auf Etagenbetten zurückzugreifen. Zum Glück hatten wir vorher schon ausgemacht, dass ich unter Ayame schlief. Ich schlief sofort ein und bekam schon gar nicht mehr mit, wie Suzume oder Ayame das Schlafzimmer betraten.

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