Kapitel 3: Kleiner Unfall

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Ich musste wohl gestarrt haben, denn mein Gegenüber räusperte sich, bevor er mir einen guten Morgen wünschte. Es war der gleiche Mann, der mir am Vortag den Weg zur Mita Station gezeigt hatte. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass er in der Wohnung neben uns wohnen würde. Kurz wusste ich nicht, was ich tun sollte, dann fing ich mich aber wieder und erwiderte seinen Gruß. Auf Japanisch, da seiner dies auch war.

"Ich wusste gar nicht, dass Sie Japanisch sprechen", stellte er daraufhin fest.

"Ich bin noch ziemlich unsicher", gab ich zu und vermied dabei auch noch den Blickkontakt. Das tat ich allerdings nur, weil es mir immernoch unangenehm war, dass ich ihn angerempelt hatte. "Aber ich bin hier, um das zu ändern", fügte ich noch schnell hinzu.

Er nickte und wandte sich der Treppe zu. Rasch folgte ich, aber dennoch gingen wir schweigend nebeneinander her. Wieder ertappte ich mich dabei, wie ich ihn von der Seite anschaute. Ich wusste, dass es nicht gut gehen konnte, jetzt nicht vor mich zu gucken, aber ich tat es trotzdem nicht und fragte mich, was er wohl dachte, hinter seinem ernsten Gesicht. Dann kam es, wie es kommen musste: Ich trat daneben und fiel die Treppe runter, wobei ich kurz aufschrie, dann aber verstummte, als ich am Ende der Treppe ankam. Es tat weh, aber ich verlor nicht das Bewusstsein. Verärgert über mich selbst, mit Kopfschmerzen und mit zwei aufgeschlagenen Knien setzte ich mich auf. Er kam sofort auf mich zu und hockte sich neben mich, mit dem Rücken zur Treppe.

"Geht es Ihnen gut?", erkundigte er sich besorgt.

"Ja, geht schon", meinte ich und lächelte ihn dankbar an. Obwohl es eigentlich normal sein sollte, dass er mir helfen wollte, fühlte es sich seltsam an, ihn direkt neben mir zu haben und dann noch so nah wie gerade.

Er öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als plötzlich in einem der oberen Stockwerke eine Tür aufging. Hoffentlich hatte ich keinen mit meinem Geschrei geweckt. Dann waren Schritte auf der Treppe zu hören. Kurz darauf bogen Ayame und Namiko um die Ecke. Beide noch im Schlafanzug.

"O Gott, Klara!", kam es von Ayame, Namiko rannte aber ohne zu zögern los.

Ich dachte, sie hätte ihn gesehen, hatte sie aber nicht. Das Mädchen mit den schulterlangen schwarzen Haaren fiel über den Müllsack, den ich bei meinem Sturz hatte fallen lassen, und landete auf dem Mann vor mir, welcher wiederum auf mich fiel, sodass ich ganz unten lag. Die beiden waren schwer und das war nicht einmal alles. Das Gesicht des Schwarzhaarigen war meinem plötzlich unangenehm nah, vor allem unsere Lippen, welche sich beinahe berührten. Einen kurzen Moment war ich vor Überraschung wie gelähmt, dann fielen mir seine violetten Augen auf, die mich genauso überrascht anschauten. Anscheinend war auch er kurz vor Überraschung gelähmt, denn als ich eine Sekunde später spürte, wie ich rot wurde, schaute er weg.

"Namiko!", hörte ich Ayame aufrufen, bevor auch sie die Treppe runterstürmte, um ihr aufzuhelfen. Und zwar nur ihr.

Kurz darauf rappelt sich der Mann über mir sich auch wieder auf und hielt mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen.

"Alles in Ordnung?", erkundigte er sich erneut. "Können Sie aufstehen?"

Ich nahm seine Hand. "Ja, ja, das geht schon", meinte ich und zog mich hoch. Hatte ich kalte Hände oder bildete ich mir einfach nur ein, dass seine Hände wesentlich wärmer als meine waren?

Als ich wieder auf den Beinen stand wendete er sich Namiko zu. "Mizushima-chan du Tollpatsch", tadelte er die Jüngste unter uns.

"Entschuldigung", sagte sie hastig und verbeugte sich.

"Sieh doch, was du angerichtet hast", meinte er und deutete mit dem Kopf auf die Treppe.

Nun sah ich es auch. Als Namiko über den Müllsack gefallen war, musste dieser aufgegangen oder eingerissen sein, denn gut die Hälfte seines Inhalts lag auf den Stufen verstreut.

"Oje", machte Namiko nur als sie seiner Andeutung folgte und die Treppe sah.

"Wir kümmern uns schon darum", sagte Ayame daraufhin schnell, bevor sie Namiko einen verärgerten Blick zuwarf.

Diese senkte bloß den Kopf. Offenbar war ihr die Situation extrem unangenehm.

"Nein, ich helfe euch", meinte er daraufhin. Ayame wollte noch etwas einwenden, aber bevor sie das konnte wandte er sich wieder an Namiko: "Holst du bitte einen neuen Müllsack?", bat er.

Das Mädchen nickte und eilte die Treppe hinauf, da begann er auch schon, die ersten Papierfetzen und leeren Packungen aufzusammeln. Rasch folgte ich seinem Beispiel, bevor auch Ayame begann, den Müll aufzulesen. Der mir immernoch unbekannte sammelte mit mir zusammen den Hauptteil auf, welcher auf den unteren Stufen verteilt lag, während Ayame sich um den kümmerte, der in der Mitte verteilt war. Apropos, ich hatte ja auch meinen Schlüsselbund in der Hand. Den hatte ich wohl beim Sturz fallen gelassen, aber er musste ja hier liegen.

"Wenn jemand einen Schlüsselbund findet, ist das wahrscheinlich meiner", warf ich deshalb in die Runde als auch schon Namiko kam und wir den Müll in unseren Händen endlich in einen Sack werfen konnten.

Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis ich meinen Schlüsselbund fand. Er lag am Ende der Treppe und ich steckte ihn in meine Hosentasche. Nach kurzer hatten wir zu viert das Chaos beseitigt.

"Vielen Dank, für Ihre Hilfe", bedankte sich Ayame noch schnell bei dem Mann, bevor dieser sich verabschiedete und rasch ging. Sicherlich war er spät dran.

Nun stand ich mit drei Mädchen, die noch ihren Schlafanzug trugen, neben der Treppe.

"Tut mir echt leid", meinte ich nach einer Sekunde der Stille bloß. Da fing Ayame plötzlich an, zu kichern. "Was ist so lustig?", wollte ich wissen.

"Ach nichts", meinte diese bloß. "Lasst uns wieder hoch gehen."

"Aber was ist mit dem - " Weiter kam ich nicht, denn Ayame unterbrach mich: "Nicht mit deinen Knien. Weißt du noch, dass wir im sechsten Stock wohnen und der Aufzug kaputt ist?"

Das wusste ich und ich musste ihr auch recht geben: Das würde Schmerzhaft werden. Also nickte ich und folgte den beiden zurück. Vor der Tür blieb ich stehen und schaute auf den Namen, welcher an der Klingel der Wohnung nebenan angebracht war.

>宗像<

Ich konnte es nicht lesen. Nur das erste Zeichen, aber nicht das zweit und bekanntlich wurde ein Kanji ja Chinesisch ausgesprochen, wenn es mit einem anderen Kanji zusammen stand. Also tippte ich Ayame an.

"Was steht da?", fragte ich sie.

">Munakata<", las sie mir vor. "Aber du kannst ihn auch nach seinem Namen fragen, wenn dieser dich interessiert", steckte sie mir dann leise und auf Deutsch. Warum, wusste ich nicht, aber sie hatte recht. Dann fiel mir ihre Wortwahl auf. Sie wollte damit wohl das Missverständnis vermeiden, ich könnte denken, dass sie mir unterstellte, ich würde mich für Munakata-san selber interessieren.

Wenn sie wüsste...

Als wir die Wohnung betraten, verdonnerte Ayame Namiko und mich sofort, uns ins Wohnzimmer zu setzen und auf sie zu warten, da sie Pflaster holte. Namiko hatte sich den Ellenbogen aufgeschlagen. Ich vermutete mal, dass selbst Munakata-san irgendetwas weh tat. Vermutlich sein Rücken, schließlich war Namiko darauf gelandet.

POV Munakata
Wegen dem Vorfall kam ich eine Viertelstunde zu spät. Zwar bemerkte ich die fragenden Blicke, denn sonst war ich immer pünktlich, aber ich ignorierte sie. Nur Awashima-san gegenüber rechtfertigte ich mich, da sie mich direkt darauf ansprach.

"Es hat einen kleinen Vorfall gegeben. Kein Grund zur Sorge", erklärte ich nur und spürte im gleichen Moment einen leichten Schmerz im Rücken. Mizushima-chan... Ich wusste, dass sie ein Tollpatsch war, aber auf mich gefallen war sie bisher noch nicht und ehrlich gesagt war ich bis zu diesem Tag auch froh darüber. Ich bevorzugte es, wenn die Leute nicht auf mich fielen.

Nachdem ich mit Awashima-san gesprochen hatte, ging ich zu meinem Spint, in dem ich meine Uniform zurückgelassen hatte. Ich wollte keine Blicke mehr auf mich ziehen, als ich am Vortag nach Hause ging. Hätte ich das besser mal nicht getan. Als ich meine Schlüssel aus der Tasche holte und nach dem passenden suchte, fiel mir schnell auf, das keiner passte, was daran lag, dass es der falsche Schlüsselbund war. Zuerst wunderte ich mich darüber, dann fiel mir aber wieder ein, was heute morgen passiert war. Das Mädchen hatte die Tür abgeschlossen, ihren Schlüsselbund aber in der Hand behalten und bei dem Sturz verloren, sowie ich auch, nachdem Mizushima-chan auf mich gefallen war. In der Eile musste ich wohl die Schlüsselbünde verwechselt haben.

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