Kapitel 16: Vogelfutter

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Wie erwartet, drehte Suzume durch, als sie das Chaos sah. Aber ich konnte sie verstehen, vor allem das Fenster war ein Problem. Zwar wohnten wir im sechsten Stock und es war somit höchst unwahrscheinlich, dass jemand durch das Fenster einbrach, aber wenn es regnete, war ein fehlendes Fenster nicht hilfreich. Das einzige Positive war, dass die Wasserleitungen im Bad heil geblieben waren. Nur die Tür der Dusche und ein paar Fliesen waren zerstört. Wobei die Fliesen die Schuld von Munakata-sans Leuten waren. Wieso mussten die auch Baseball mit dem Vogel als Ball spielen? Ging das nicht vorsichtiger? Der Vogel war doch auch ein Lebewesen.

"Und jetzt? Soll ich das Fenster zunageln, oder was? Mit was für Brettern denn?" Suzume ging im Wohnzimmer auf und ab und schrie uns an, als er ob es unsere Schuld wäre, dass der Adler das Fenster zerbrochen hatte. "Und sei gefälligst still, du unglücksbringende, grüne Nervensäge!", schrie sie den Papagei an, der daraufhin endlich verstummte. "Ich dreh durch!"

"Ich würde Handwerker anrufen", meinte Ayame leise.

"Und warum hast du das noch nicht gemacht?", entgegnete Suzume ihr.

"Hier war vielleicht bis eben die Hölle los? Munakata-san, drei seiner Leute und der Tierarzt waren hier." Immerhin Ayame blieb ruhig.

"Er wurde entlassen?", fragte sie verwundert nach.

"Ja. Heute", antwortete ich.

"Wie auch immer", seufzte sie. Endlich beruhigte sich die 24-jährige wieder. "Ich rufe jetzt unsere Eltern an und bitte sie um finanzielle Unterstützung wegen dem Fenster." Sie schaute Namiko an, bevor sie mit Blick auf den Rest fortfuhr: "Dann rufe ich einen Glaser an, schließlich habe ich keine Lust, das Fenster bis morgen so zu lassen." Damit verließ sie das Wohnzimmer und sah ziemlich frustriert aus.

Wir schauten ihr hinterher und hofften ebenfalls, dass heute noch ein neues Fenster eingebaut werden konnte. Keine von uns wollte die Nacht so verbringen. Der Gedanke mit einem Loch im Wohnzimmerfenster zu schlafen, verursachte bei mir das Gefühl mitten in Tokyo zu campen. Ich fühlte mich nicht sicher auch wenn es technisch unmöglich war, durch dieses Loch reinzukommen. Das Problem dabei: Munakata-san hatte meine Vorstellung von 'Unmöglich' ins Wanken gebracht. Und nicht nur er, diese zwei Vögel trugen auch ihren Teil dazu bei. Der Papagei teilte Stromschläge aus und der Adler hatte die Kraft ein Fenster zu zerbrechen. Was war nun also möglich und was nicht? Und könnte vielleicht noch so ein Unruhestifter durch das Fenster reinkommen? Plötzlich ertappte ich mich dabei, Munakata-sans Anwesenheit zu vermissen. Auch mit einem gebrochenen Arm war er noch in der Lage, jemanden in Schutz zu nehmen. Naja, vor einem Vogel jedenfalls. Aber das war besser als nichts. Schnell versuchte ich, an etwas anderes zu denken. Doch bevor das tun konnte, kam Suzume zurück.

"Unsere Eltern helfen uns. Und der Glaser kommt auch heute noch. So um neun wahrscheinlich", informierte sie uns.

"Um neun?", hakte ich nach.

"Ich hatte eben gute Argumente und er Mitleid."

Wir schwiegen. Eigentlich war das einzige Argument, dass es kein gutes Gefühl war, in einer Wohnung, in der ein Loch im Fenster war, zu übernachten. Auch im Anbetracht des Wetterberichts, wie mir gerade einfiel.

"Und jetzt zu dem da", Suzume deutete auf den Käfig. "Ein Papagei fliegt genauso wenig einfach durch Tokyo wie ein Weißkopfseeadler. Er muss also jemandem gehören."

"Und wir sollen herausfinden, wem", sagte Namiko wenig motiviert. Man konnte fast meinen, die schlechte Laune von dem Brillenträger wäre auf sie übergesprungen.

Nun, wo ich daran dachte... Sie hatte schon irgendwie fasziniert ausgesehen. Beinahe musste ich grinsen, aber Suzume hätte mich dafür wahrscheinlich gerügt. Zwar kannte ich den Typ nicht, aber ich glaubte nicht, dass er und Namiko zusammen passen könnten. Und wenn doch, dann nur weil Gegensätze sich anzogen.

"Genau. Wir fangen mit den Anzeigen im Internet an. Am besten nimmt sich jeder eine andere Seite vor." Sie wendete sich an mich. "Und du gehst bitte los und kaufst Futter für den Kleinen."

"Ich? Mit Krücken?"

"Du kannst dich auch den ganzen Abend lang durch durch die Seiten wühlen. Der Aufzug funktioniert übrigens wieder."

"Echt?", rutschte es mir heraus.

Namiko lachte. "Nein, weißt du?", scherzte sie.

Darauf ging ich nicht ein, sondern ließ mich von Suzume in den Flur schieben. Sie drückte mir etwas Geld in die Hand.

"Hier, das sollte reichen."

"Bis gleich." Ich griff nach meinem Schlüssel und machte mich auf den Weg, obwohl ich nicht mal wusste, wo der nächste Tierladen war. Doch das fiel mir erst ein, als ich auf der Straße stand. Was für ein Déjà-vu, dachte ich, als sich mich umsah.

Genau wie bei meiner Ankunft war kein Mensch zu sehen. Ich überlege kurz, ob ich hoch gehen oder eine der drei anrufen sollte, um zu fragen, ließ es aber bleiben und ging in die Richtung, die ich für richtig hielt. Das glich meinem ersten Tag hier so sehr. Ich, alleine in Tokyo und keine Ahnung, wo ich lang gehen musste. Beim Gedanken, dass ich dadurch Munakata-san kennengelernt hatte, musste ich lächeln. Seitdem waren zwei Wochen vergangen und es war viel passiert. Nicht nur hatte ich mich eingelebt und Freunde meiner Freunde kennengelernt, ich hatte auch jemanden kennengelernt, der mir den Kopf verdrehte und der mich anscheinend auch mochte. In Schwierigkeiten gebracht hatte ich mich auch schon. Und ein Rätsel hatte ich auch gefunden. Alles in zwei Wochen, das war eine Leistung. Die nächste Leistung, wenn man das so nennen konnte, ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Das durfte doch nicht wahr sein! Die anderen hatten mir doch die ganze Gegend gezeigt und mich sogar über die Straßen abgefragt. Und trotzdem stand ich jetzt irgendwo in Shizume und hatte keine Ahnung, wo ich war. Seufzend griff ich in meine Hosentasche und... nichts! Ich hatte mein Telefon vergessen! Das durfte doch nicht wahr sein... Damit war das Déjà-vu perfekt: Allein, verlaufen und nicht in der Lage jemanden anzurufen oder einen Passanten nach dem Weg zu fragen. Besser ging es nicht, oder? Frustriert blieb ich stehen und schaute mich um. Naja, eigentlich ging es schon schlimmer. Immerhin war ich alleine in Schwierigkeiten. Wenn die Probleme mit einem anderen verbunden wären, wäre es schlimmer. Also kurz: Wenn mich jemand attackierte. Eigentlich war das aber unwahrscheinlich, wer interessierte sich schon für eine Europäerin auf Krücken? Und andererseits war ich nach dem Vorfall heute beinahe an dem Punkt, an dem ich mit allem rechnete.

"Es hilft ja nichts", murmelte ich zu mir selbst und machte kehrt. Hoffentlich fand ich wenigstens den Rückweg, sonst hatte ich wirklich ein Problem. Wer wusste schon, wann ich das nächste Mal jemanden traf? Seltsamerweise waren die Straßen immer dann leer, wenn ich mich verlaufen hatte, fiel mir auf. Es war schön fast so, als ob die Stadt mich gerne planlos durch die Gegend laufen sah. Nicht einmal ein Auto fuhr an mir vorbei und es war vielleicht sieben Uhr! Vielleicht etwas später, aber in welcher Großstadt war um sieben Uhr nichts mehr los? Ich war doch nicht auf dem Dorf.

"Was machst du denn hier?", ertönte plötzlich eine Stimme neben mir.

Ich war so in meine Gedanken vertieft und gleichzeitig konzentriert darauf, mich nicht noch mehr zu verlaufen, dass ich nicht mitbekommen hatte, dass sich mir jemand genähert hatte. Natürlich war ich dementsprechend überrascht. So überrascht, dass ich mich erschreckte und mit einer Krücke nach der Person schlug. Dass ich getroffen hatte, bereute ich allerdings sofort.

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