KAPITEL 32

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„Sag mal, was fällt dir ein? Hast du auf die Uhr geschaut? Hast du auf mal dein verdammtet Handy geschaut? Wo warst du? Was hast du gemacht?", bombardierte mich mein Bruder mit allmöglichen Fragen, nachdem ich das Haus betreten hatte und gerade dabei war mir die Schuhe mühsam von den Füßen zu ziehen.

Die Schuhe stellte ich ordnungsgemäß neben die anderen die dort schon standen, zog mir die Jacke aus und hing sie an den Haken. Meinen Bruder würdigte ich keines Blickes und seine Fragen ließ ich unbeantwortet. Natürlich wusste ich wie spät es war und natürlich hatte ich auf mein Handy geschaut.

„Corbin, ich rede mit dir!", sagte er und hatte die Laustärke etwas hochgeschraubt. Ich erlebte meinen Bruder selten laut oder fordernd. Aber ich war zu betäubt um es vernünftig wahrzunehmen oder dementsprechend zu reagieren. Alles was ich wollte war in mein Bett und dort auch für den Rest meines Lebens zu bleiben.

Wankend tapste ich zur Treppe und hielt mich am Geländer fest und war gerade dabei die erste Stufe zu erklimmen, als mein Bruder an mir vorbei ging und sich vor mir hin stellte. Mein Blick war fest auf das ausgeblichene und abgenutzte Holz und den zerfransten Teppich gerichtet, der mit kläglichen Versuchen dort festgenhagelt wurde.

„Corbin?" Seine Stimme klang jetzt nur noch besorgt und das war viel schlimmer. Er sollte nicht um mich besorgt sein, das war doch unnütz und hoffnungslos, genau wie ich. „Hey", sprach er sehr vorsichtig aus und berührte mich an der Schulter. Die Berührung ließ mich zusammenzucken, aber ich sah immer noch nach unten.

Tief holte ich die Luft in meine Lungen und hielt sie dort einen Moment fest bevor ich sie zitterig ausstieß. „Ich bin müde, Kit. Ich will einfach nur in mein Bett, okay?" Noch immer sah ich ihn nicht an, dafür setzte ich mich aber in Bewegung und zwar rechts vorbei an meinem Bruder. Er hielt mich zwar nicht auf, er kam mir aber hinterher. Sein Blick bohrte sich in meinen Rücken, es fühlte sich an als würde er jeden meiner Schritte überwachen.

Nach der Treppe ging ich sofort in mein Zimmer.

„Bist du betrunken?", fragte mich mein Bruder nachdem er mich wohl ausgiebig gemustert hatte. Dass er das noch fragen musste. Ich roch sicher wie eine Kneipe und mein Gangbild war alles andere als harmonisch und koordiniert, das bekam sogar ich selber mit. Wie ein Seemann auf hoher See, dessen Schiff gerade gegen starke Wellen kämpfte, fühlte ich mich.

„Nein", beantwortete ich seine Frage.

„Wie bist du nach Hause gekommen?", hakte er nach.

„Zu Fuß."

„Spinnst du? Da hätte sonst was passieren können", tadelte er mich und folgte mir immer noch. Mittlerweile war ich in meinem Zimmer angekommen und wäre fast über einen Haufen aus Klamotten gestolpert, wäre da nicht mein Bruder gewesen, der mich gerade so nach am Arm gepackt hat.

„Warum hast du mich nicht angerufen?", wollte er wissen. Warum war er nur so gesprächig? Warum konnte er mich nicht in Ruhe lassen? Was brachte es jetzt noch darüber zu diskutieren? Ich war hier und das reicht doch. „Wozu? Was hätte es gebracht?", murrte ich und entwand mich aus seinem Griff. Mein nächster Stopp war mein Bett, in das ich mich einfach fallen ließ.

„Ich hätte dich abholen können!" Seine Stimme war nervig, seine Fragen waren nervig, er war einfach nur nervig. Mir war verdammt schlecht und alles drehte sich, mein Kopf dröhnte. Warum hatte ich mich nochmal betrunken? Ach ja, um nichts mehr zu fühlen. Ganz beschissene Idee. Das Ganze hat vielleicht für ganze 30 Minuten funktioniert und dann habe ich hinter dem nächsten Supermarkt im Dreck gesessen und geweint.

„Was ist passiert? War irgendwas mit Antonia? Hat sie irgendwas dazu gesagt? Corbin?", waren seine nächsten Fragen. Seufzend drehte ich mich auf die andere Seite und musste unterdrücken gleich los zu kotzen. Zitternd schob ich die Hände unter das Kopfkissen und drückte mein Gesicht hinein. „Geh einfach", bat ich meinen Bruder.

Die Matratze senkte sich und ich stöhnte genervt auf. Warum konnte er nicht ein Mal machen was ich von ihm wollte. „Du kannst mit mir reden", versuchte er es sanft und ich spürte eine Hand auf meinem Schulterblatt. „Ich will nicht reden! Lass mich in Ruhe!", fuhr ich ihn lautstark an und drückte mich weiter in das Kissen.

„Aber...", fing er an, aber ich unterbrach ihn: „Nichts aber! Ich will nicht reden, das wird es nicht besser machen! Lass mich alleine! Jetzt!" Sofort entfernte sich die Hand von meinem Rücken. „Wir müssen ja auch nicht reden, ich kann auch einfach hier sitzen und bei dir sein, okay?" Er sprach es langsam aus und besonnen. So hatte er das letzte Mal mit mir gesprochen als unsere Mutter gestorben war. Und es kotzte mich einfach nur an.

Niemand war tot, er brauchte sich keine Sorgen machen oder sich um mich kümmern. Er musste nicht so tun als wäre ich zerbrechlich. Ich brauchte ihn nicht, ich brauchte niemanden. Er konnte mir sowieso nicht helfen ...

„Nein! Geh, verdammt nochmal!" Nun hatte ich mich ruckartig aufgesetzt und starrte ihn böse an. Meine Augen brannten und in meinem Sichtfeld tanzten Sterne. Mein Bruder sah mich einen Moment lang an, ehe er aufstand und aus meinem Zimmer ging.

Meinen Kopf ließ ich wieder zurück in das Kissen sinken, meine Finger verkrallten sich in das Bettlaken. Hastig senkte sich mein Brustkorb und mein Herz schlug viel zu schnell. Es war einfach zu viel für mich, das mit Perry und das mit Antonia. Ich hatte das Gefühl das irgendwas in mir kaputt gegangen war, aber dadurch dass einfach alles weh tat konnte ich nicht genau feststellen was.

Das letzte Mal als mich so fühlte war an dem Tag als ich zum ersten und zum letzten Mal am Grab meiner Mutter stand. Ich hatte ihr einen kleinen Strauß Sonnenbräute auf den Sarg geschmissen, bevor die Erde drauf geworfen wurde. Das waren ihre Lieblingsblumen. Und meine auch, weshalb wir fast den ganzen Garten damit bepflanzt hatten. Vater hat immer geschimpft, aber uns beiden war es egal.

Panik stieg in mir auf.

Warum fühlte ich mich so? Warum hatte ich wieder das Gefühl ich würde am Abgrund sitzen?

Niemand war gestorben. Ich hatte nicht das Recht mich so zu fühlen, aber trotzdem kroch dieses Gefühl wie schwarzes Gift durch meine Adern. Hastig setzte ich mich hin, holte tief Luft.

Meine Mutter hat Sonnenbraut immer so geliebt, weil dessen Blüten immer so schön geleuchtet haben. Genau wie sie. Und mit meiner Mutter verschwanden auch die Sonnenbräute. Das Leuchten war komplett aus meinem Leben verschwunden.

Und Perry hatte mir wieder etwas davon geschenkt.

Und dann hatte er es mir wieder weggenommen.

Und Antonia hat den Rest gegeben.

Und jetzt war alles dunkel und schwarz und kalt.

Die Luft zirkulierte stockend in meinem System, das Blut rauschte auf Hochtouren, mein Herz schlug so schnell das ich das Gefühl hatte gleich in Ohnmacht zu fallen. Hastig kämpfte ich mich aus dem Bett, stolperte über den Boden, hielt mich aber noch fest.

Mit zusammen gebissenen Zähnen torkelte ich durch mein Zimmer, krallte mich über all fest wo ich ankam.

„Kit?", rief ich nach meinem Bruder.

Kurze Zeit später kam er aus seinem Zimmer und sah mich an.

„Ich ... ich weiß nicht ... es ist ...", fing ich stammelnd an, ich wäre fast an den Wörter erstickt, weshalb ich einfach den Mund wieder schloss und meinen Bruder ansah. In meinem Hals saß ein fetter Kloss und ich versuchte ich n herunter zu schlucken, aber es ging nicht. Meine Sicht wurde schwammig.

Meinen Rücken lehnte ich gegen die kalte Wand.

Mein Brustkorb hob und senkte sich, meine Schultern fingen an zu beben.

Ein wimmern verließ meinen Mund.

Und das nächste was ich mitbekam war das ich mich lautstark heulend an meinen Bruder klammerte und er seine Arme fest um mich gelegt hatte und mich festhielt. 

You've been poisoned [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt