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Ich sass alleine im Bus, es war immer so. Die Lehrer hatten es schon längst aufgegeben, mir zu helfen, es hat ja doch nichts gebracht. Und schliesslich hatte Debrah es geschafft, die meisten unter ihnen um den kleinen Finger zu wickeln.

Doch ausnahmsweise störte es mich nicht, denn ich musste meine Gedanken ordnen. Direkt nach dem Spiel kam Debrah in mein Zimmer gestürmt und fing an, mich anzuschreien. Sie hatte damit gerechnet, dass ich in Tränen ausbreche und weglaufe. Diese Tatsache hatte mich so wütend gemacht, dass ich umso mehr darauf bestanden hatte, die Herausforderung anzunehmen. Sie war in einer Zwickmühle, denn wenn sie jetzt einen Rückzieher machen würde, hätte das die ganze Schule mitbekommen und eine solche Blamage konnte sie sich nicht erlauben. Schliesslich wurde abgemacht, dass ich noch am selben Samstag zu Castiel in die Wohnung ziehen sollte. Ob er damit einverstanden war? Keine Ahnung. Für mich jedenfalls war das die denkbar schlechteste Zeit, denn am Sonntag stand mir das wohl wichtigste Konzert meines Lebens bevor. Aber das konnte ich Debrah nicht sagen, von wollen ganz zu schweigen.

Nur schon der Gedanke ans Konzert löste Nervosität in mir aus. Ich atmete tief ein und rieb mir die Schläfen. Wenn Nihaku diese Aktion von mir herausfindet, bringt er mich eigenhändig um, das war sicher. Wie um alles in der Welt sollte ich ihm die Situation erklären? Mir wurde schon bei der Vorstellung an ihn schlecht. Ich nahm mein Handy hervor und suchte die Playlist für das kommende Konzert heraus. Die Ablenkung konnte ich gut gebrauchen. Ich schaltete die Musik ein und verfolgte Note für Note. Ich war so in die Musik vertieft, dass ich gar nicht bemerkte, dass sich jemand auf den Platz neben mir setzte.

«Mal sehen was du so für Musik hörst», sagte Castiel grinsend und noch bevor ich reagieren konnte, steckte er sich eines meiner Kopfhörer ins Ohr. Er sah kurz verwirrt aus und schaute mich dann unfassbar an. «Echt jetzt?» Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Die ganze Playlist bestand nur aus klassischer Musik. Da ich nichts erwiderte stand er wieder auf und verliess mich mit den Worten «Also in den nächsten zwei Wochen wirst DU ganz sicher keine Musik abspielen.» Das konnte doch echt nicht wahr sein! Ich stand den Tränen so nah wie schon lange nicht mehr. Wie konnte es nur sein, dass ich mich immer und immer wieder vor ihm blamieren musste? Wieso musste ich ausgerechnet jetzt das Konzert durchgehen? Wütend packte ich mein Handy weg und starrte zum Fenster hinaus. Das werden die peinlichsten zwei Wochen meines Lebens.

In der kommenden Woche versuchte ich, zuhause so nett wie möglich zu sein, Mama bei allem zu helfen, doch vor allem ging ich Nihaku, meinem Stiefvater, wenn es möglich war, aus dem Weg. Plötzlich war es dann Freitag und ich hatte ihnen immer noch nichts von der Aktion erzählt. Grübelnd kam ich die Treppen hoch, die ganze Zeit überlegte ich, wie ich die Geschichte am besten verkaufen sollte. Es war von vornherein ausgeschlossen, dass ich ihnen von Castiel berichtete. Ich fand meine Mutter in der Küche. Als ich nach Nihaku fragte, sagte sie, er sei heute geschäftlich unterwegs und komme erst spät nachhause. Perfekt, dachte ich mir, das war der wohl beste Zeitpunkt, ihr meine Pläne für die zwei kommenden Wochen zu erzählen. Ich hatte mich dazu entschlossen, ihr die Wahrheit zu erzählen, wie es zu der Wette kam und wieso ich sie auf jeden Fall einhalten musste. Nur das kleine Detail, dass es sich dabei um einen Jungen handelte, hatte ich ausgelassen, stattdessen erzählte ich, ich müsse bei Viola übernachten.

«Denkst du, du kannst dich am Wochenende auf das Konzert fokussieren? Du weisst, wie wichtig es für uns ist, dass du gut spielst.» Am liebsten hätte ich einen genervten Seufzer von mir gegeben, konnte mich aber noch zurückhalten. «Ja, Mama. Ich werde auch morgen noch einmal üben gehen.» «Na, dann, von mir aus. Dir ist aber bewusst, dass Nihaku nicht erfreut sein wird.» Ich nickte nur. Ja, es war mir bewusst, dass es Konsequenzen mit sich bringen wird.

Ich war überrascht, wie wenig ich doch für zwei Wochen brauchte. Ich hatte innerhalb einer Stunde meinen Koffer gepackt und sass nun untätig in meinem Zimmer herum. Vielleicht sollte ich Castiel fragen, ob es für ihn in Ordnung ginge, wenn ich heute schon käme. Ich hatte echt keine Lust auf einen Streit mit meinem Stiefvater bevor ich überhaupt hier weg bin. Und es würde definitiv zum Streit kommen, da bestand kein Zweifel. Ich kramte mein Handy heraus und blickte auf den nicht vorhandenen Chatverlauf. Nach einigem hin und her hatte ich es doch geschafft eine Nachricht zusammenzuwürfeln und mit einem «Ach, scheiss drauf» drückte ich dann auf senden. Innerhalb weniger Sekunden kam eine Antwort. «Joa, wenn du gegen elf Uhr hier bist, von mir aus». Mehr brauchte es gar nicht, ich zog den Reissverschluss an meinem Koffer zu, nahm meine Jacke und war drei Minuten später schon an der Haustür. Ich hatte mich nur ein paar Schritte von unserem Haus entfernt, als ein Auto von der anderen Strassenseite um die Ecke bog. Ich erkannte es sofort, nahm augenblicklich den Koffer hoch und fing an zu joggen. Ich hielt erst drei Häuserblocks entfernt an und auch nur weil ich mir sicher war, dass er mir nicht nachfuhr. Tief atmend zückte ich mein Handy, doch da war noch keine Nachricht. Noch nicht, dachte ich mir, und ich hatte mich nicht geirrt, denn etwa zehn Minuten später fing mein Handy an zu vibrieren. Natürlich war es Nihaku. Nach dem fünften Anrufversuch begann er mir Nachrichten zu schreiben, die ich gar nicht erst zu lesen wagte. Schliesslich hielt ich das ständige vibrieren nicht mehr aus und schaltete mein Handy komplett aus.

Nach ungefähr einer halben Stunde stand ich endlich vor Castiels Haustür. Ich wollte schon klingeln, als mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss; was, wenn meine Eltern, durch Nihakus Zorn getrieben bei Viola aufkreuzten? Mein Leben wäre vorbei, denn wenn sie die Wahrheit herausfänden, würden sie mich definitiv aus der Schule nehmen. Oder noch schlimmer, Nihaku könnte meine Mutter dazu überreden, mich zuhause zu unterrichten. Das würde ich nicht überleben, egal wie sehr ich die Schule hasste, nichts war schlimmer als 24 Stunden lang mit diesem Mann eingesperrt zu sein. Ich konnte das nicht, ich musste nach Hause! Das Risiko war es einfach nicht wert. Ich hatte mich schon umgedreht und wollte wieder gehen, als die Tür hinter mir aufgemacht wurde. «Na, was ist, kneifst du doch?» Verdammt, das konnte doch nicht sein! Wie hatte er mich bemerkt? Langsam drehte ich mich wieder um, den Blick auf meine Füsse gerichtet. «Hey, dir ist schon klar, dass dich keiner hierzu zwingt, oder? Wenn du das nicht willst, geh einfach...» Meinte Castiel etwas genervt. «Wenn du wüsstest», murmelte ich, wahrscheinlich ein bisschen lauter als beabsichtigt, denn er zog eine Augenbraue nach oben. Schliesslich zuckte ich nur mit den Schultern und kam wieder zurück zur Haustür. Er hielt sie mir auf und ging dann voraus zum Lift. Ich hatte schon viele peinliche Situationen erlebt, doch mit Castiel in einem doch etwas engem Lift gefangen zu sein, war das vielleicht Unangenehmste. Ihn schien das überhaupt nicht zu stören, ich hatte sogar den Eindruck, dass ihn die Situation köstlichst amüsierte.

Castiel wohnte im obersten Stockwerk, in einem Loft, wie mir schnell klar wurde. Die Wohnung war nicht gross, trotzdem hatte man das Gefühl, man könne frei durchatmen. «Wow», mehr brachte ich nicht heraus. «Ich weiss», sagte Castiel mit einem Grinsen im Gesicht, «ich hatte schon lange einen Blick darauf geworfen und letztes Jahr konnte ich es mir endlich leisten, hier einzuziehen. Fühl dich wie zuhause» Das ist tausendmal besser als mein zuhause, dachte ich nur grimmig, schob den Gedanken aber schnell beiseite, als ich merkte, dass nirgendwo eine Matratze oder Ähnliches aufgestellt war. «Wo genau kann ich schlafen?», fragte ich vorsichtig und in mir kam ein ungutes Gefühl hoch. «Na, im Bett, wo denn sonst?» antwortete er und zeigte auf sein Bett. Ich erstarrte, schaute auf das Bett und blickte dann zu Castiel rüber. Er schien meine Verwirrung nicht zu verstehen. «Ahhaber... wenn ich dort schlafe...wo schläfst dann du?» Stotterte ich und mein Gesicht lief rot an. Wieder nickte er zum Bett rüber, mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. In meinem Kopf begann es zu schwirren und mir wurde leicht schwindelig. Ich und Castiel in einem Bett? Was sollte das? Wollte er mich prüfen? Er hat doch eine Freundin, wieso... Und da wurde es mir klar, es war Debrah, die dahintersteckte. Wut kochte in mir hoch und ich wollte schon etwas erwidern, als Castiel hinter mir zu lachen begann. «Keine Sorge Kleine, das war ein Scherz. Du hast die Wohnung heute Nacht für dich alleine, ich schlafe bei Debrah.» Die Wut schwand und machte der Enttäuschung Platz. Natürlich musste es so kommen; Debrah konnte sich nicht einfach geschlagen geben, sie musste das letzte Wort haben. Und in diesem Fall hiess das, dass ich wohl die Wohnung ihres Freundes zwei Wochen lang für mich hatte. Wie toll. Doch Castiel riss mich aus meinen Gedanken, er hatte irgendetwas gesagt, worauf ich ein kurzes «Was?» erwiderte, in der Hoffnung, er möge sich wiederholen. «Na, du hast ausgesehen als hätte ich dein Todesurteil verkündet. Wäre es echt so schlimm, ein Bett mit mir zu teilen?» Das Schmunzeln wurde grösser und er neigte leicht seinen Kopf. Gott, er sah so gut aus und das wusste er ganz genau. Unter anderen Umständen... Aber nein, er hatte mir gerade mitgeteilt, dass er mich hier ganz alleine zurückliess, und zwar über Nacht. Ich hob meinen Kopf und blickte ihm kühn in die Augen. «Es wäre vermutlich die Hölle», erwiderte ich und zog eine Grimasse. Sein Lächeln erstarb und er rollte mit den Augen. «Na, das kann ja heiter werden», hörte ich ihn murmeln, liess mir aber nichts anmerken. «Den Zweitschlüssel lege ich hier auf den Tisch. Wir kommen morgen so gegen zehn Uhr wieder.» Mit diesen Worten nahm er seine Jacke und war verschwunden. Wieso ich kurz danach in Tränen ausbrach, wusste ich nicht genau.

Wie kam es soweit?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt