Ich wusste, dass ich gut spielen konnte. Ich hatte sehr früh mit dem Spielen angefangen und gerade in der Zeit, als die meisten das Üben aufgaben, weil sie lieber mit ihren Freunden etwas unternehmen wollten, hatte ich nichts anderes im Kopf, als besser zu werden. Doch dann kam Nihaku in unser Leben und alles änderte sich. Es verging kein Jahr und ich spielte nicht mehr nur aus purer Leidenschaft. Es war keine Frage mehr des Wollens; ich musste üben, ich musste an Konzerte, ich musste gut sein. Etwas anderes gab es nicht mehr. Das Schlimme daran war, dass ich das Spielen liebte. Die Musik war meine Zuflucht, als alles um mich zusammenbrach, in sie konnte ich mich immer flüchten.
Ich war nur selten aufgeregt vor einem Konzert. Castiel kam am Morgen nicht zurück und so hatte ich genug Zeit um mich vorzubereiten. Und dann war es soweit, das Streichorchester wurde auf die Bühne gebeten. Jaqueline stand auf, als der Dirigent zu ihr kam, gab ihm die Hand und setzte sich wieder neben mich. Die Menschenmenge beruhigte sich und ich schloss kurz die Augen. Das war eines meiner Lieblingsmomente; man konnte die Spannung in der Luft fühlen, es war still, alle warteten gespannt. Die Streicher setzten an und blickten zum Dirigenten. Die Solistin war bereit, hob ihren Bogen und dann ging es los. Ich gab mich der Musik hin, genoss jede kleine Harmonie.
Dann kam der Moment; mein Moment. Ich stand auf und wechselte den Platz mit der dritten Solistin. Der Dirigent sah mich an und ich nickte. Sofort brach die Panik in mir aus, doch ich konnte mich rechtzeitig fassen. Das war eines dieser Momente, die ich definitiv nicht mochte. Das Orchester begann zu spielen und ich wartete auf einen Einsatz. Die Musik schwoll an, darauf wartend, dass ich den Part übernehme. Ich schloss die Augen. Atmete ein. Atmete aus. Und begann. Der Einsatz gelang mir perfekt, doch beim dritten Anstieg griff ich für einen kurzen Moment zu tief. In der darauffolgenden Pause betete ich, dass Nihaku den Fehler nicht bemerkt hatte, fasste mich aber wieder und spielte weiter. Es dauerte nicht lange und ich blühte komplett auf, spielte Phasen mit, die ich als Solistin nicht zwingend hätte spielen müssen, schaffte eine Tonleiter nach der anderen fehlerfrei und bestand die letzte Hürde im dritten Satz mit Bravour. Dann war das Stück zu Ende und ich genoss die wenigen Sekunden Stille vor dem Applaus. Ich blickte zu Jaqueline rüber und sie nickte mir anerkennend zu.
Nach dem Konzert kamen viele auf mich zu und gratulierten mir, sagten mir, wie beeindruckend es sei, mit so jungen Jahren einem Kammerorchester anzugehören, viele fragten mich nach meinen späteren Zielen. Ich setzte ein gekonntes Lächeln auf und erzählte allen die gleiche Lüge. Dass es mein Traum sei, Musik zu studieren und eine der führenden Solistinnen zu werden.
Dann erblickte ich ihn. Nihaku beobachtete mich durch die Menschenmenge hindurch und als er sich sicher war, dass ich ihn gesehen hatte, drehte er sich um und deutete mir an, ihm zu folgen. Alles sank in sich zusammen, die Freude, die ich vor kurzem noch verspürt hatte, war wie weggeblasen. Meine Füsse hatten sich verselbständigt und folgten meinem Stiefvater mechanisch.
Er wartete in einem der Übungsräume auf mich, fernab von der Menschenmenge. Ich betrat den Raum und senkte den Blick, darauf wartend, dass er etwas sagte. Er ging um mich herum und schloss die Tür, danach stellte er sich wieder vor mich hin und hob mein Kinn. Kurz darauf traf seine flache Hand mein Gesicht. Ich biss meine Zähne zusammen, doch nahm es hin. Es hatte keinen Sinn sich zu wiedersetzen. «Das...» Er machte eine Pause, seine Stimme zitterte vor Wut, «das war erbärmlich. Du wirst mich nie wieder so blamieren, hast du mich verstanden? Dieser Ausrutscher hätte dich fast dein Stipendium kosten können!» Nun brüllte er mich förmlich an, fasste sich dann aber. «In drei Stunden bist du zuhause und dann reden wir weiter. Hast du mich verstanden?» er hatte einen leisen, aber gefährlich Ton angenommen. Ich hielt den Blick gesengt und die Enge in meiner Brust wurde immer stärker. «Ja Sir», flüsterte ich, meine Stimme brach fast. Er strich über mein Haar und seine Hand blieb an meiner Wange stehen. Ich unterdrückte den Ekel, als er sanft mit seinem Daumen über meinen Wangenknochen fuhr. Schliesslich ging er und liess mich alleine zurück. Ich zählte innerlich bis dreissig, konnte mich danach aber nicht mehr zurückhalten und brach in Tränen aus. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Jaqueline kam lachend herein. «So, du hast dich lange genug gedrückt, jemand wichtiges sucht dich schon die...» Sie verstummte, kam zu mir herüber und legte ihre Hand beruhigend auf meine Schulter. Davon wurde mein Schluchzen nur noch stärker, ich konnte einfach nicht mehr aufhören. Noch nie hatte ich so gut gespielt, doch auch das war ihm nicht gut genug. «Es wird nie gut genug sein», brachte ich unter Schluchzern hervor. Jaqueline nahm mich in den Arm und drückte mich fest an sich. Nach einer Weile konnte ich mich endlich beruhigen. Ich sah sie an und zwei traurige Augen blickten zu mir zurück. Ich wusste, dass sie gerne etwas gesagt hätte um mich aufzumuntern, doch was hätte sie schon sagen können.
Zwei Stunden und 50 Minuten. Ich stand an der Olson Street. Wenn ich nach links gehe und mich beeile, kann ich in drei Minuten zuhause sein. Seit zwanzig Minuten stand ich an der Kreuzung und redete mir ein, ich hätte noch Zeit, denn es bräuchte nur drei Minuten um nach Hause zu kommen. Seit zwanzig Minuten versuchte ich, mich dazu zu zwingen nur einen Schritt nach links zu machen. Ich wusste dass, wenn ich jetzt zurück nach Hause gehen würde, meine Zukunft vorbestimmt sein würde. Zwei Stunden und 54 Minuten. Ich schloss die Augen, spürte eine Träne auf meiner Wange. Zwei Stunden und 56 Minuten. Mechanisch begannen meine Füsse mich zu tragen. Ich musste mich entscheiden, ansonsten blieb mir die Entscheidung erspart. Eine Entscheidung. Jetzt. Ich begann zu rennen, gerade aus, weg von dem Haus, in dem ich aufgewachsen war. Ich rannte, bis ich meine Beine nicht mehr spüren konnte. Schliesslich musste ich anhalten und rang nach Luft. Es schien, als würden sich meine Lungen bewusst nicht weiten wollen, als würden sie gegen meine Entscheidung rebellieren. Mit Tränen in den Augen blickte ich auf die Uhr; es war 21:47. Siebzehn Minuten zu spät. Mit einem Mal brach ich zusammen, liess den Tränen ihren Lauf, hielt sie nicht zurück. Ich hatte keine Ahnung was ich von nun an tun sollte. Nach Hause konnte ich nicht mehr, das würde ich nicht überleben. In die Schule konnte ich auch nicht, er würde auf mich warten. Es dauerte lange, doch schliesslich konnte ich mich beruhigen, es fehlte mir schlichtweg die Kraft um mich weiter zu bemitleiden. Erst jetzt bemerkte ich, wohin ich gerannt war. Ich war im Park, nur zehn Minuten von der Schule entfernt. Wie ferngesteuert setzte ich mich auf die nächstgelegene Bank und starrte vor mich hin.
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Wie kam es soweit?
Roman pour AdolescentsKorra ist die Idealverkörperung eines Aussenseiters. Doch nachdem sie sich auf eine Wette einlässt, verändert sich so einiges... Eine Sweet Amoris Fanfiction