Bruderliebe und eiskalte Jagd

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Die Rekruten lagen völlig ausgelaugt auf ihren Lagern, Stirrius hatte es netterweise wieder übernommen, das Essen für sie zu besorgen, sodass sie nicht aufstehen mussten. Der neue Trainingsplan machte selbst den Ausdauerndsten von ihnen zu schaffen. Außerdem spitzten sich die Konflikte mit den germanischen Stämmen an der anderen Rheinseite zu und jeder rechnete im Moment mit einer Eskalation. Stirrius war bereits drauf und dran, alle möglichen Heilkräuter zu beschaffen und Salben herzustellen. Er wollte für jeden möglichen Notfall gewappnet sein. Der ursprüngliche Befehlshaber Antonius Lucius blieb verschwunden. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt.

Lucius lag noch als letzter mit Stirrius wach. Immer, wenn er sich sicher war, dass die anderen schon schliefen, fing Stirrius an, ihm den Rücken und Füße zu massieren. Es war eine wahre Wohltat und Lucius genoss es in vollen Zügen. Auch, wenn er dafür auf etwas Schlaf verzichten musste. Doch nun wurde seine genießerische Zeit von einem Flüstern unterbrochen. „Lucius? Lucius, bist du noch wach?" Es war die Stimme seines Bruders.

Lucius kroch vorsichtig zum Zelteingang und sah dort Antonius kauern. „Was ist denn los?", wisperte Lucius. „Kann ich bei euch schlafen?" Lucius stutzte. Sein Bruder hatte doch bei sich ein vernünftiges Bett und warme Fackeln, warum wollte er ausgerechnet bei ihnen schlafen? Genau das fragte er Antonius und bekam als Antwort nur: „Ich möchte da eigentlich nicht drüber sprechen." Lucius seufzte, doch er meinte: „Komm rein. Du kannst zu mir kommen." Er wusste nicht genau warum, aber er hatte das Gefühl, wenn sein Bruder schon freiwillig zu ihm kam, sollte er auch nett zu Antonius sein.

Sein Bruder kroch vorsichtig hinter ihm her an den anderen Schlafenden vorbei. Im schwachen Licht der letzten brennenden Öllampe konnte Lucius sein Gesicht erstmals vernünftig erkennen. Er musste ein entsetztes Aufkeuchen unterdrücken und schlug sich die Hand vor den Mund. Antonius' Wange leuchtete in blau und gelb, unter seinem linken Auge konnte man ein Veilchen erkennen. „Oh, Götter, was hat Vater dir angetan?", hauchte Lucius. Antonius sah zur Seite auf den Boden, als ob er darüber nicht sprechen wollte. Er gab einen ungewohnten, recht kläglichen Anblick ab, nur in einer üblichen Tunika auf dem Boden hockend. Schließlich klinkte sich Stirrius entschlossen ein. „Ausziehen", bestimmte er. Die beiden Brüder sahen ihn verwirrt an. Stirrius deutete auf Antonius. „Ich will sehen, was Ihr sonst noch abbekommen habt. Und erzählt mir nicht, dass die Wunden in Eurem Gesicht alles sind." Antonius erwiderte nichts, er wusste, dass es jetzt nichts bringen würde, zu diskutieren. Als zog er sich seine Tunika über den Kopf und erneut musste Lucius ein Aufkeuchen unterdrücken, doch diesmal klappte es nicht so gut. Antonius' Oberkörper war von allen Farben bedeckt, rot, blau, grün, violett, gelb und es waren deutliche Striemen zu erkennen, die Lucius an die erinnerte, die Stirrius einst gehabt hatte. „Nein", flüsterte Lucius entsetzt. Antonius sah noch immer zu Boden, doch er sah auf, als sein Bruder vorsichtig die Arme um seine Schultern legte. Er achtete dabei besonders darauf, nicht an die verfärbten Stellen zu kommen. Antonius war erst etwas irritiert, doch dann umarmte er Lucius leicht zurück. Schließlich konnte er sie nicht mehr richtig wegblinzeln und einige stumme Tränen liefen seine Wangen herunter, sodass sie auf die schmalen Schultern seines kleinen Bruders tropften. Lucius strich ihm beruhigend über die Stellen, an denen sein Körper keine Blutergüsse aufwies.

„Das sieht echt scheiße aus", ertönte auf einmal die trockene Feststellung. Die Brüder zuckten auseinander und sahen die anderen Jungen, allesamt wach und auf sie schauend. Antonius schnauzte: „Das geht euch nichts an", doch sein Bruder ermahnte ihn sofort und bestimmt. „Hier, wir werden dich schnell verarzten gehen. Das kannst du doch eben machen, oder?" Er drehte seinen Kopf zu Stirrius. Dieser nickte bestätigend und sie machten sich, Antonius mehr oder weniger freiwillig, auf den Weg zum Lazarett. Sie wurden glücklicher Weise von niemandem gesehen, die Nachtwachen an den Palisaden achteten so oder so eher auf die äußere Umgebung.

Venimus, vidimus, amavimusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt