1 - Adlerauge

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Der leichte Wind brachte die Wasseroberfläche zum Kräuseln. Zu dieser heißen Jahreszeit kam eine kühle Brise mir gerade Recht. Es war nicht so, als konnte ich den Sommer überhaupt ausstehen.

Zusammengekauert saß ich am Steg, der in den See führte, die Arme um die Knie geschlungen. Fasziniert beobachtete ich einen Adler, der über der Wasseroberfläche kreiste, nur um wenige Sekunden später im Bruchteil einer Sekunde in das kühle Nass zu tauchen und mit einem Fisch im Schnabel wieder in die Lüfte zu steigen. Ich bewunderte seine Ruhe und Präzession.

Die Bäume im Hintergrund bewegten sich sanft im Wind und erzeugten ein angenehmes Rascheln. Die Luft roch nach Algen und Fisch. Ich hatte diesen Ort bis vor kurzem noch nie wahrgenommen, doch seitdem ich realisiert hatte, dass Aiden hier nie hinkam, auch wenn er wusste, dass ich hier war, nutzte ich dies.

Eigentlich war Aiden seit Jahren mein bester Freund. Eigentlich. Wenn er wüsste, dass ich seit einiger Zeit auf ihn stand, würde er sich sicher sofort von mir abweisen. Was würde er nur mit einer Schwuchtel zu tun haben wollen?

Mein Blick fixierte eine Dose, die im Wasser vor sich hin dümpelte. Auf eine seltsame Art und Weise fühlte ich mich zu dieser Dose hingezogen. Ich konnte mich in sie hineinversetzen. Auf einer Stelle dümpelnd, sich vom Strom mitleitend. Nicht in der Lage zu sein, eigene Entscheidungen zu treffen.

Verzweifelt verkreuzte ich die Arme hinter meinem Kopf. Warum musste momentan alles so verdammt kompliziert sein? Ich konnte nicht mehr mit Aiden befreundet bleiben, obwohl ich seine Nähe um jeden Preis behalten wollte. Doch ich merkte, dass seine Anwesenheit mich nur herunterzog, da ich genau wusste, dass er für mich nie das empfinden würde, wie ich für ihn. Der Gedanke, er würde mich verabscheuen, wenn ich ihm die Wahrheit erzählen wurde, drückte mich herunter und brachte mich zum Ertrinken. Was blieb mir also anderes übrig, als das Land zu suchen, wenn das Meer zu wild zum Schwimmen war?

Ich nahm einen flachen Stein, der auf dem Steg lag und warf ihn ins Wasser. Anscheinend hatte ich ihn wohl nicht richtig gehalten, denn er sprang kein einziges Mal von der Wasseroberfläche ab, sondern versank gleich. Wie motivierend.

Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass es bereits langsam Zeit fürs Abendessen war. Eine Verspätung würde meinem Vater gar nicht gefallen. Also ließ ich meinen Blick ein letztes Mal über den See schweifen, versuchte dieses Bild von friedlicher Natur in meinem inneren Auge einzufrieren und für immer zu behalten. Dann drehte ich mich um und machte mich auf den Weg nach Hause.

Das Geräusch von einem umkehrenden Schlüssel erregte sofort die Aufmerksamkeit meines Vaters.
„Wo warst du?" Sein strenger Blick starrte auf mich herunter und gab mir gleich ein gedemütigtes Gefühl.
„Am See."
„Warum?"
„Bisschen den Kopf freikriegen." Missmutig versuchte ich mich seinem Verhör zu entziehen, indem ich mich unauffällig an ihm vorbei zwängte. Sein widerwärtiger Körper füllte fast den ganzen Flur aus. Bei einem direkten Vergleich von mir und ihm würde keiner auf die Idee kommen, dass ich sein Sohn wäre. Mit meinen Stockarmen und einem so dürren Oberkörper, dass selbst die Models von Germanys next Topmodel neidisch werden würden, hatte ich kaum Ähnlichkeit zu ihm. Zum Glück.
„Hast du noch Hausaufgaben?", rief er mir hinterher, als ich versuchte in mein Zimmer zu flüchten.
„Nein."
„Dann kannst du dir dein Handy abholen." Ohne zu zögern tat ich das auch.
Aiden hatte mich angerufen. Was er wohl von mir wollte? Natürlich wäre es das Klügste den Anruf zu ignorieren. Schließlich wollte ich nun von ihm Abstand nehmen. Versuchen, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen, und wieder klar zu denken. Aber ich hatte schon immer einen schwachen Willen gehabt und, obwohl ich es nicht wollte, drückte ich auf „Zurückrufen".
„Hey hey!", begrüßte mich sofort eine gut gelaunte Stimme. Ich musste erst einmal tief durchatmen, um das plötzlich aufgetretene Zittern in meinem Körper wieder zu vertreiben.
„Hallo." Meine Stimme klang im Gegensatz zu seiner ziemlich beklemmt und steif. Hoffentlich würde er das durch das Telefon nicht so bemerken.
„Wo warst du denn? Ich habe die ganze Zeit versucht dich zu erreichen!" Aiden klang etwas vorwurfsvoll, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.
„Ich war am See." Eine kurze Pause entstand.
„Achso." Von Aidens anfänglichem Enthusiasmus war nichts mehr zu hören. Ich wusste ja, dass er den See nicht mochte und ihn vermied – warum auch immer – aber so zu übertreiben? Das sah ihm nicht ähnlich.
„Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob du mich morgen zu der Beachparty begleiten möchtest. Ich konnte zwei Karten ergattern und wir haben schon so lange nichts mehr zusammen unternommen!" Überrascht stellte ich fest, dass meine Unterlippe blutete. Ich musste wohl die ganze Zeit unbewusst auf ihr herumgebissen haben. Warum war es denn auch nur so schwer, diesem Jungen eine Absage zu erteilen? Ich konnte ihm einfach kein „nein" geben, verdammt noch mal.
„Du weißt doch wie mein Vater ist... auf eine Beachparty lässt der mich doch nie." Zugegeben, mein einziger und letzter Versuch mich herauszureden war ziemlich lasch. Denn ich wusste, dass mein Vater mich erstaunlicherweise auf solche Partys lässt, so lange ich die Finger vom Alkohol lasse. Warum? Keine Ahnung. Ich habe mich nie getraut nachzufragen.
„Hä? Du warst doch letztens erst mit mir auf dieser Hausparty von Val! Und dagegen ist eine Beachparty doch nichts." Aidens Stimme klang zurecht verblüfft. Ich zuckte mit den Schultern, wohlwissend, dass er es ohnehin nicht sehen würde. Er hatte diesen Kampf gewonnen, von dem er sich sicherlich nicht mal bewusst war, dass es ein Kampf war. Ich konnte das nicht.

„Okay", sagte ich, „Ich komme."

Ich war einfach zu schwach um mich vom Strudel loszureißen. 

Schwimmkurs || BoyxBoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt