Teil 1

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"Ferien!", schrie der Junge von dem Treppenhaus ins Erdgeschoss hinunter.
"Paul, gib Ruhe!", lachte seine Mutter aus dem Wohnzimmer.
"Es ist 10 Uhr am Morgen, leg dich schlafen um Gottes Willen.", murmelte sein Vater total verschlafen hinter seiner Zeitung von letzter Woche hervor und schob sich die runde Brille auf der Nase zurecht.
"Auf keinen Fall, ich bin hellwach.", er rannte die Treppen hinunter.
In der Küche saß seine Schwester und malte etwas. "He, Sabse.", begrüßte er sie und wuschelte durch ihre Haare, sie wimmelte ihn genervt ab, nicht jeder konnte seine gute Laune am frühen Morgen ab. Aber es war der erste Ferientag, für Paul ein Anlass zum Feiern, während der Rest der Familie nur durchatmen wollte.

Ein wenig genervt stand Richard nun am Bahnhof, allein mit dem schweren Koffer. Seine Eltern hatten keine Anstalten gemacht, ihn zum Bahnhof zu bringen oder mit ihm zu warten. 'Erhol dich gut und bleib weg von denen, die anders sind.', hatten sie ihm gesagt und ihm nicht einmal einen Abschiedskuss oder ähnliches gegeben, bevor er losging. Seine ganzen Ferien sollte er nun auf dem Land verbringen, bei seinen Großeltern. Richards einzige Hoffnung war es, ein paar nette Mädchen kennenzulernen, was gab es denn sonst auf dem Land?
Der Zug kam, Richard stieg ein und bereitete sich auf eine lange und öde Fahrt vor.

"Ich geh raus.", erklärte er knapp, nachdem er ein Glas Milch in gefühlt einem Schluck getrunken hatte.
"Paul, bleib weg vom-"
"Schon klar, Land von den Kruspes, jaja.", erwiderte er genervt und seine Mutter sah ihn besorgt an.
"Wir meinen es doch nur gut, Kind.", jetzt lockerte sie ihre Miene und ließ ihn ziehen. Der Jugendliche rannte barfuß über das warme, große, sonnenbeschienene Feld direkt zum Stall hin.

Nach langer, schier endloser Zugfahrt kam Richard an und auch auf diesem Bahnhof, der ihm auch noch fremd war, war er allein. Niemand war da um ihn abzuholen. So ging er alleine seines Weges, fragte die Leute nach der Richtung und versuchte, sich so gut wie möglich zu orientieren. Er war für sein Alter sehr verantwortungsbewusst, jedoch hatte er es immer so beigebracht bekommen.

Wege und Felder zogen an ihm vorbei und die warme Luft begleitete ihn auf seinem Weg.
Mit einem großen Ruck gefolgt von lautem Scheppern hatte er die Stalltür geöffnet und spazierte fröhlich durch die Reihen. Zwei von den vier Kühen, die Familie Landers hielt waren noch im tiefen Schlaf, das Scheppern hatte ihnen nichts ausgemacht.
Im kleinen eingezäunten Bereich für den Hofshund stand dieser schon auf allen Vieren und war bereit gefüttert zu werden, genau wie alle anderen Tiere. Paul ging also seiner morgendlichen Routine nach, bis er beim Prachtstück des Stalles ankam; sein Schimmel 'Baron', er war mit diesem Ross aufgewachsen.
"He, mein Junge.", begrüßte er ihn und entsicherte die Stalltür, führte ihn ins satte Grün.
Die frische Luft vom Lande füllte seine Lungen und als er sich so umsah und Baron durch die weiße Mähne wuschelte, bemerkte er jemanden auf der Landstraße, noch weit weg, aber derjenige schien auf dem Weg in Pauls Richtung zu sein.

Der Wind strich Richard durch sein schwarzes Haar und wehte ihm ein paar Strähnen ins Gesicht. So schön es auch war, er war dennoch schlecht gelaunt und hatte wenig Lust, seine Ferien hier zu verbringen. Was gab es schon auf dem Land? Kühe, Wiesen und Felder, nichts weiter. Voll Missmut ließ Richard seinen Koffer fallen und setzte sich auf einen Stein am Wegrand. Zu lang war er schon gelaufen, der Griff des Koffer hatte sich beinahe in seine Hand geschnitten und Richard fühlte sich ein wenig allein gelassen.

Paul spielte mit seinen Hosenträgern herum und kaute auf einem langen Grashalm, dessen längeres Ende aus seinem Mund hing, zwischen den Zähnen herum. Mit zusammengekniffenen Augen stellte er fest, dass sich dieser jemand nun auf einen Stein niedergelassen hatte, der gar nicht weit von Paul lag. Er band Baron schnell an einen Pfosten und begann in die Richtung des Unbekannten zu schleichen. Er sammelte zu seinem eigenen Spaß noch kleine Erdbrocken vom Boden auf. Je näher er kam, desto mehr konnte er erkennen, dass es sich um einen Jungen handelte. Nicht sonderlich jünger als er und sichtlich erschöpft. Ein Koffer lag neben seinen Füßen. Hatte der Junge eine Unterkunft gesucht? Falls ja, hätte er ihn als Weggefährten für die langweiligen Ferien gerne willkommen geheißen. Nun stand Paul etwa vier Meter hinter ihm und zielte mit den kleinen Erdbrocken auf die Schulter des Jungen. Erster Wurf und schon ein Treffer! Was man nicht alles gegen Langeweile tat.

1933Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt