Stockholm

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Casper ist unglaublich stark. Er rumpelt immer wieder gegen die Wände, so hört es sich zumindest an und Lejs starrt mich an. Er weiß nicht, was er tun soll. Kann ich verstehen, wüsste ich auch nicht.

„Scheiße“, murmelt er dann nur. Er rauft sich die Haare und scheint einen Entschluss zu fassen. Er knebelt mich wieder und macht dann Anstalten, sich auf den Fahrersitz zu setzen. Das kann jetzt nicht sein Ernst sein. Es ist clever, ja klar. Wenn er fährt, kann Casper unmöglich den Kofferraum öffnen und raus steigen. Er würde sich dabei umbringen. Und sollte er überleben, würde Lejs Gas geben und er könnte uns nicht einholen. Niemals. Heißt, dass ich jetzt etwas tun muss. Genau jetzt. Das ist die einzige Chance. Für Casper. Für mich. Für uns beide. Und deswegen hebe ich mein gesundes Bein und trete gegen die Scheibe. So kräftig ich kann und ich gebe mir unglaublich Mühe. Erst ist es nur ein feiner Riss und dann wie ein Spinnennetz. Ich muss uns Zeit verschaffen. Mein Fuß durchstößt das Glas und kleine Scherben ziehen sich über meinen Knöchel und die Wade. Es ist okay, tut nur geringfügig weh.

„Spinnst du?“, schreit Lejs mich an und steigt wieder aus. Er reißt meine Tür auf und ich hole nochmal aus. Ein kräftiger Tritt in seinen Magen, ich bin gut. Das wird Konsequenzen mit sich bringen, aber darum geht es nicht. Es geht um die Sekunden, in denen er zurück taumelt, nur darum. Und dann tut er mir weh. Er stürzt sich schon halb auf mich, drückt meine Beine nach unten und presst sich mit aller Kraft auf meine Schiene. Und ich schreie so laut, dass man es durch das Klebeband noch Kilometer weit hört. Es ist richtig. Es. Ist. Richtig.

„Halt dein beschissenes Maul, oder ich schlage dich bewusstlos, kleine Hure“, zischt Lejs mir ins Ohr, doch ich muss weiter machen. Wenn er mich verprügelt, vergrößert das Caspers Möglichkeiten. Er hält meinen Blick fest und ich sehe schon fast, wie sich seine Mimik verändert.

„Das ist also der Plan“, murmelt er dann schon fast kaum hörbar.

„Vergiss es, Süße“, zieht er die Augenbrauen hoch und legt dann seine Hände an meine Kehle. Diesen Kampf kann ich nur verlieren. Die abgeschnittene Luft zieht mich in eine Art Sog und ich höre nicht mehr das Klopfen, nicht mehr seine Worte, gar nichts mehr. Nur noch das Rauschen in meinen Ohren und mir wird unglaublich schlecht. Es ist, als würde ich an einem Faden durch die Brust nach oben gezogen werden. Unaufhaltsam. Lejs lächelt und ich, ich sterbe.

Ich muss ohnmächtig geworden sein, oder tot. Der Druck ist weg und ich schmecke Blut. Ich möchte husten, kann aber nicht. Mein Körper ist mir nicht mehr mächtig. Was auch immer passiert ist, es ist oder war mein Ende.

„Caja, Caja komm schon.“ Es ist seine Stimme und doch kann ich die Augen nicht öffnen. Ich schaffe es einfach nicht. Es ist wie fliegen, als mich jemand hoch hebt. Vielleicht ist das hier ja so ein krankes Entschweben aus dem Körper. Vielleicht komme ich jetzt nach dort oben und überblicke diese scheiß Welt. Vielleicht kann ich jetzt aufhören.

„Caja, bitte.“ Und plötzlich habe ich mich wieder. Ein Gefühl, eine Wahrnehmung meiner selbst. Die Blockade wird von meinem Mund genommen und ich kann nicht anders – reflexartig reiße ich ihn auf und sauge soviel Luft in mich ein wie ich kann. Und dann muss ich husten und husten und husten. Es brennt so sehr und trotzdem tut es so gut zu leben. Die Lider flattern wie ein erwachter Schmetterling und ich sehe ihn. Er steht auf der Straße und hält mich im Arm. Aus den Augenwinkeln sehe ich Lejs, wie er auf dem Asphalt liegt. Ich will fragen, ob er tot ist, aber das bringt mich zum Würgen und dann zum Husten.

„Ist schon gut, alles wird gut“, murmelt Casper und er sieht mich einfach nur an.

„Es ist vorbei, Caja, es ist vorbei.“ Und ich glaube ihm, weil Lejs' Blut den grauen Staub herab läuft und eine Stadt füllen wird. Sie werden alle seine kirschrote Suppe schmecken und wissen, dass er schuldig ist. Es wird in ihren Zeitungen stehen, mit roter Tinte geschrieben.

„Schau, da ist das Ende der Welt und wir drehen um.“ Stunden bis Stockholm.

„Wo hat der Wichser uns hingebracht?“ Weniger Stunden bis Stockholm.

„Wir finden es, Caja.“ Noch weniger Stunden bis Stockholm.

„Ich bring dich nach Hause.“ Viel weniger Stunden bis Stockholm.

„Da sind die Lichter, Caja. Siehst du sie? Da hinten?“ Stockholm.

Die weißen Laken duften nach den Toten, die hier einmal gestorben sind, vermischt mit Waschmittel und ich habe noch nie etwas so Schönes gerochen. Sie werden mich noch einmal operieren, das haben sie mir schon gesagt. Eine Schwester ist bei mir und lässt mich nicht alleine. Casper ist weg. Er hat mich ins Krankenhaus gebracht und dann ist er fortgegangen. Sie sagen, dass meine Eltern da sein werden, wenn ich aus der Nakose wieder aufwache. Oh, die Damen und Herren haben schon mitbekommen, dass ich weg war, welch ein Wunder. Ich sage der Krankenschwester, dass ich meine Mutter und meinen Vater nie wieder sehen möchte und sie sagt, dass ich nur so rede, weil ich einen Schock und Schmerzen habe. Sie streicht über meinen Ellbogen, weil die Finger verstümmelt sind und auch wieder ganz gemacht werden müssen. Ich frage sie, ob ich mit der Polizei reden muss. Jetzt noch nicht, sagt sie und dann darf ich endlich schlafen. Sie stecken mir eine Nadel in den Arm und spritzen Wasser in mich rein, bis ich wie ein Ballon aussehe. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Vielleicht träume ich das auch nur. Es ist ein schöner Traum. Er bringt mich zum Lachen.

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