1: Von Pizzen und Panikattacken

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"Hi, mein Name ist Allie und das ist meine Geschichte." 
Noch bevor ich den Satz zu Ende sprechen konnte, schüttelte Dad bereits energisch den Kopf und warf eines der bunten Sofakissen nach mir. 
"Schrecklich. Und viel zu dramatisch. Willst du dich deinen Klassenkameraden vorstellen, oder von deinem Leben als Gefangene von Azkaban erzählen?" Immer noch kopfschüttelnd legte er seinen halbvollen Pizzakarton zur Seite und stand von der geblümten Couch auf, die wir vor einer Stunde erst fluchend durch das enge Treppenhaus gehievt hatten. Jetzt saßen wir unzählige Schlepp-Aktionen und eine verzweifelte Pizza-Bestellung später in der kahlen Wohnung, die ich noch nicht so recht als unser neues Zuhause akzeptieren konnte, und probten meinen ersten Schultag.
Es lief - Überraschung - verhältnismäßig schlecht. 

"Nochmal. Los geht's." Dad streckte sich stöhnend, entschied sich dazu, das Sofakissen auf dem Boden zu ignorieren und setzte sich stattdessen wieder zu mir, um mir beruhigend durch die Haare zu streichen. "Stell dir einfach vor, ich bin ein neuer Mitschüler von dir und brenne darauf, die fantastische Neue kennen zu lernen."
"Und dieser neue Mitschüler krault ebenfalls meinen Kopf, um mich zu beruhigen?", fragte ich halb lachend, halb krächzend und schloss meine Augen, um mich zu sammeln. Wie der erste Schultag morgen wirklich verlaufen würde, konnte ich jetzt noch nicht sagen - aber ich konnte zumindest üben. Vielleicht würde ich mir auch noch kleine Karteikarten basteln, falls ich morgen eine spontane Panikattacke bekommen und kleine Details, wie meinen eigenen Vornamen vergessen sollte.

"Wie wäre es mit ...", ich stoppte kurz, sah durch das noch ungewöhnlich leere Wohnzimmer, was Dad in den nächsten Tagen bestimmt mit seinem Ramsch vollstellen würde und räusperte mich. "Hi, mein Name ist Allie. Und glaubt mir, ich habe mehr Angst vor euch, als ihr vor mir."
Erneut schüttelte Dad den Kopf. Statt das nächste Kissen nach mir zu schmeißen, nahm er sich jedoch seine überdimensionale Hornbrille von der Nase, um mir anschließend ernst in die Augen zu sehen.
Oh-oh. Ich kannte diesen Ausdruck nur zu gut. Der berühmt-berüchtigte ich-bin-sonst-gern-der-lockere-paps-aber-jetzt-reden-wir-mal-klartext-fräulein-Blick.
"Warum macht es dir Angst, Albie?" Seufzend legte er seine Brille auf dem bunt gestrichenen Couchtisch ab, streckte sich und lächelte mir dann aufmunternd zu. Das konnte Dad besonders gut; mit seinem noch jugendlich wirkenden, gewelltem Haar, den freundlich funkelnden Augen und den Lachfalten um seinen Mund herum kaufte man ihm zu jedem Zeitpunkt ab, dass er jegliche Probleme einfach wegzwinkern konnte. Ich wünschte, ich hätte auch nur die Hälfte der Gelassenheit, die er ausstrahlte. Diese Selbstverständnis, die ihm erlaubte, die verrücktesten Klamotten zu tragen, ohne komisch zu wirken. Die Coolness. Dieser Stolz. Ich hätte gerne mehr von ihm, als von Mum vererbt bekommen.
Bevor ich innerlich weitere Lobeshymnen an meinen Vater formulieren konnte, griff er blindlings nach seiner Pizza und biss schmatzend von seiner widerlichen Schinken-Ananas-Bestellung ab.
Wenigstens hatte er mir nicht seinen Geschmack vererbt. 

"Warum es mir Angst macht?", wiederholte ich schließlich und lachte trocken. Schnaubend drehte ich mich von ihm weg, legte meine Füße auf dem Couchtisch ab - stellte sie wieder auf den Boden, als Dad mir schnalzend einen Klaps gab - und ließ meinen Blick durch den noch kahlen Raum wandern, der noch so gar nicht nach einem echten Zuhause wirkte. Aber was nicht war, konnte ja noch werden; und immerhin lebten wir erst seit geschlagenen sechs Stunden in Queens. 
Wie erklärte man seinem selbstbewussten Vater, was es bedeutete, in der heutigen Zeit ein Teenager zu sein? Wie konnte ich ihm verständlich machen, wie viel Angst mir das amerikanische Schulsystem bereitete? Durch die vielen Teenie-Komödien wusste ich immerhin, was auf mich zukam. Die Schulen hier waren nicht, wie die in England. Du warst entweder Sportler, Künstler, Alternativi, oder Nerd. Und mit diesen Menschen solltest du dann auch rumhängen.
Aber was, wenn mich keine der Qliquen wollte? Was, wenn ich für die Einen zu unsportlich, für die Anderen nicht schlau genug und für die Dritten zu uninspiriert war? Dann wäre ich nur die komische Neue mit dem komischen Vornamen und dem komischen, britischen Akzent. Und dann wäre ich das perfekte Fressen für die obligatorischen Mobber, die es an jeder Schule auf diesem Planeten geben musste. War wohl so eine Art Naturgesetz.
"Weil Teenager grausam sein können, Dad", antwortete ich schließlich und starrte das abstrakte Bild zwischen den hohen Fensterfronten an, welches er vor wenigen Stunden aufgehangen hatte. Er selbst konnte mir nicht sagen, was die wilde Mischung aus schwarzen Tupfern und rot-goldenen Schlieren darstellen sollte, aber er empfand es als bewegend.
Ja, bewegend. Wenn man in Betracht zog, dass ich mich gerne von der Couch bewegen und dieses grässliche Ding aus dem Fenster werfen würde.  

"Und weil ich nicht du bin, um ihre Sprüche einfach cool wegzulächeln." 
Ich grinste schwach und vergrub mein Gesicht in den Händen. Von Coolness war ich selbst weit entfernt. An schlechten Tagen reichte ein falscher Blick, um mir die Tränen zu entlocken. Ich war näher am Wasser gebaut, als jeder Steg dieser Welt - und die Vorstellung, dass mich jemand an meinem allerersten Schultag doof anmachen und zum Heulen bringen könnte ... brachte mich fast zum Heulen. Die Chancen standen bei 250%, dass ich mich morgen zum Affen machen würde. 
"Albie ..." Dad kaute an seinem Pizzastück herum und legte vorsichtig seinen Arm um mich, als wäre er nicht ganz sicher, ob das gerade angebracht war. War es aber; dankbar lehnte ich mich an ihn und versteckte mein Gesicht unter seinem Retro-Blazer. "Niemand wird dir doofe Sprüche zurufen. Du bist ein toller Mensch und das werden sie merken, meine Süße. Und selbst wenn nicht, sind das nur gelangweilte Teenager, die über etwas Neues froh sein werden. Oder freut sich eure Generation etwa nicht über etwas Ablenkung im Unterricht? Zu meiner Zeit war es jedenfalls hip, sich ablenken zu lassen." Dad knuffte mich in die Seite, legte dann seinen Pizza-Arm auf meinem Kopf ab und benutzte mich als provisorische Stütze, um weiter zu essen. "Sei freundlich, geh' auf sie zu und wenn dir jemand nett vorkommt, dann lädst du ihn zu uns auf einen Tee ein. Sie werden unseren Tee lieben und dich zu ihrer britisch-amerikanischen Teekönigin ernennen. Problem gelöst." 
"Und wenn sie keinen Tee mögen?", brummte ich in Dads Blazer hinein und stellte mir schon die Kaffee trinkenden Teens mit Amerika-Caps und Anti-Tee-Shirts vor, die sich lauthals über mein geliebtes Darling lustig machen würden.  Dad gab ein Geräusch von sich, was wie eine Mischung aus Belustigung und Entrüstung klang und krümelte dabei meine Haare voll. 
"Je weniger Tee sie bei uns zuhause trinken, desto mehr bleibt für uns übrig. Und dann kannst du ihnen einen Spruch über ihren grauenhaften Geschmack reindrücken." 
"Sagt ausgerechnet der Mensch, dessen erste Handlung in New York es war, sich eine Ananas-Pizza zu bestellen." Ich drückte mein Gesicht weiterhin in Dad's Sicherheit spendende Umarmung, fühlte mich jedoch ein klein wenig besser. Vielleicht machte ich mir tatsächlich mehr Sorgen, als nötig wäre. Und auch wenn ich wusste, dass ich in der Nacht ganz bestimmt kein Auge zudrücken, sondern komplette Panik schieben und mich mit einer falschen Identität nach Mexiko wünschen würde: jetzt gerade war es okay. 

"Wie wäre es damit?", schlug ich vor, als ich mich wenig später doch noch aus der Umarmung zwängte und die restlichen Krümel aus meinen Haaren zog. "Hi, ich bin Allie. Das ist mein erster Tag und ich bin etwas aufgeregt, aber ich freue mich schon, euch kennen zu lernen." 
Zufrieden stopfte sich Dad das letzte Pizzastück in den Mund, um mit beiden Händen applaudieren zu können. 
"Perfekt! Wenn du dich jetzt noch als Alberta anstatt als Allie vorstellst, bin ich hin und weg." 
"Nur über meine Leiche." Ich lugte nochmal in meinen eigenen Pizzakarton, seufzte traurig, als er sich immer noch als leer erwies und stand dann gähnend auf. 
Lieber würde ich nackt auf der Midtown High School aufkreuzen, als zuzulassen, dass mein schrecklicher Vorname die Runde machen würde. 

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Hey ho! :)
Das war also das erste Kapitel meiner ersten Geschichte. Ich hoffe, es hat dir gefallen und weder ich, noch Alberta haben dich gelangweilt? :) Ich weiß, so ein Start in die Geschichte ist oft zäh, aber ich würde mich trotzdem über jedes Feedback freuen! Und ob Alberta ihren Namen wirklich geheim halten kann oder doch nackt in der Schule aufkreuzen muss, verrät dann das nächste Kapitel :)

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