2: Das Vollhorst-Outing

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Selbst die Augenringe meiner Augenringe hatten Augenringe. 
Es war ein Desaster. So tot, wie mein Spiegelbild aussah, hätte ich eine Rolle im nächsten Zombie-Blockbuster besetzen können, ohne mich großartig verkleiden zu müssen. Schuld daran war vor allem die schlichte Matratze, auf der ich meine erste Nacht im neuen Zuhause verbringen durfte; während ich in England an mein weiches Himmelbett gewohnt war und gefühlt so hoch schlief, wie die Prinzessin auf der Erbse, fühlte es sich hier so ganz ohne Bettgestell und Lattenrost an, als würde man direkt auf dem Boden liegen. Vorhänge hatten Dad und ich auch noch nicht angebracht, weswegen die komplette Nacht über eine Straßenlaterne direkt in mein Zimmer schien. Und die Schatten, die durch das Laternenlicht und die gestapelten Umzugskartons entstanden ... gepaart mit meiner Nervosität erschufen sie schwarze Gestalten, die nur darauf warteten, meinen aus der Decke ragenden Fuß zu kitzeln.

Stöhnend rieb ich mir die Augen, kniete mich vor dem noch nicht aufgehängtem Spiegel auf dem Boden hin und versuchte, das Übel einzugrenzen. Die lila Ringe unter den Augen müssten auf jeden Fall noch weg, wenn ich nicht gleich am ersten Tag als Untote abgestempelt werden sollte. Aber es gab ja nichts, was etwas Make-Up nicht regeln konnte. 

... Anscheinend gab es doch Dinge, die Make-Up nicht regeln konnte.
Zumindest, wenn man die richtige Schminke nicht rechtzeitig fand.
Als hätten mir wirklich die schwarzen Gestalten einen Streich spielen wollen, war meine Schminktasche in all den Kartons einfach nicht auffindbar. In einer meiner Sommerjacken fand ich schließlich meinen Ersatz-Concealer, welcher für meinen jetzigen Hautton aber schlicht zu dunkel war. In der Beleuchtung meines Zimmers fiel mir das zunächst nicht auf. Erst, als Dad mich schmunzelnd aus der Küche heraus fragte, ob die Kriegsbemalung als mentale Unterstützung gedacht war, fiel mir auf, dass ich statt abgedeckten Augenringen zwei orangefarbene Striche unter den Augen hatte. 
Ich sah aus, wie ein Kita-Kind, welches Filzstifte in die Finger bekam und sich spontan in ein Indianer-Tiger-Gemisch verwandeln wollte.

"Fabelhaft", quittierte ich nur, rubbelte mir die Farbe mit einer Serviette weg - meine Abschminktücher hatten sich ebenfalls zu einem spontanen Versteckspiel verschworen - und überlegte, ob ein verpatztes Make-Up-Erlebnis Grund genug war, um mich für den ersten Schultag krank melden zu dürfen.
Dad's Gesichtsausdruck zufolge nicht. 
"Jetzt mach doch nicht so ein Gesicht, Pupskopf". Grinsend goss er das frisch aufgekochte Wasser in zwei der größten Teebecher, die wir besaßen - Chaosköpfe hin oder her, wo unser Tee und der Wasserkocher war, wussten wir immer - und fluchte kurz, als seine Brillengläser durch die Wärme beschlugen.
"Sehr aufmunternd, mich Pupskopf zu nennen. Du ... du Dad." 
In gespielter Entrüstung fasste sich Dad an die Brust, brummte mir ein Autsch entgegen und stellte die Becher dann auf dem hölzernen Küchentisch ab. Da wir noch keine Stühle besaßen, setzten wir uns kurzerhand auf die Tischplatte; Dad im Schneidersitz, während ich nervös meine Füße baumeln ließ. 

"Also, was ziehst du an deinem großen Tag an?"
Um nicht sofort antworten zu müssen, pustete ich auffällig unauffällig lange in meinen Teebecher hinein und schielte zu meinem Dad hinüber. Das letzte, was ich brauchte, waren Styling-Tipps von dem Menschen, der sich immer wieder für bunte Socken in Kombination mit karierten Anzughosen und Mänteln aus dem letzten Jahrhundert entschied. Dad konnte Vieles gut - sich für einen ersten Schultag angemessen anzuziehen gehörte nicht dazu. 
"Kleidung", entgegnete ich schließlich ausweichend und lugte auf sein locker geknöpftes Hemd, welches mir in seinen Grün- und Orangetönen entgegenstrahlte.  Heute würde ich ihn gerne komplett in einen Altkleider-Container werfen. 
"Also hast du schon etwas rausgesucht? Oh, ich weiß, wie wäre es mit dem Kleid, was wir in Manchester gekauft hatten? Das vom Flohmarkt?"
"Genau, Paps." Ich grinste in meinen Teebecher hinein und vergaß für einen Moment sogar, was mich die nächsten Stunden über erwartete. Dad's fürchterliche Ratschläge in Kombination mit dem Geruch des Tees fühlten sich beinahe nach Heimat an. "Ich werde bestimmt mit offenen Armen empfangen, wenn ich mich als Alberta mit dem Dackel-Kleid vorstelle." 
Nein. Etwas Schlichtes musste her. Der Start wäre auch ohne Flohmarkt-Funde schräg genug.

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