6: Rot-Blau

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Heilige Kacke, war ich nervös. 
Zu Beginn war ich glücklich, als ich Peter's Vorschlag in die Tat umsetzte, MJ vorschlug, den verschwörerischen Ort auszukundschaften und sie tatsächlich zusagte. Den Rest des Schultages über klopfte ich mir innerlich auf die Schulter und sah alle zehn Sekunden auf die Uhr, wann es denn endlich losgehen würde. Meine erste Vielleicht-Freundschaft würde bald starten.
Yay.
Jetzt, drei Stunden und zwei Outfit-Wechsel später, war ich nur noch nervös. 

Ich wusste ja nicht einmal, was ich mit meinen Händen anstellen sollte. Aufgeregt tigerte ich durch die Jewel Avenue, starrte auf die vorbeirasenden Autos und vollführte einen merkwürdigen Hände-Tanz, den MJ hoffentlich nie und nimmer mitbekommen würde.
Erst steckte ich die Hände in meine Jackentaschen.
Dann entschied ich, dass man mir so meine Nervosität ansehen könnte und zückte stattdessen mein Handy.
Ja, ich sollte am besten tun, als hätte ich viele Chats zu beantworten. Einfach wild drauf rumtippen und MJ zeigen, wie beliebt und freundschafts-geeignet ich war.
Klasse Idee. 
Oder war am Handy rumzugammeln doch uncool? Sollte ich meine Hände einfach baumeln lassen?
Ja, ja das sollte ich. Also steckte ich das Handy wieder weg und ließ meine Hände baumeln, was das Zeug hielt.
Bis mir einfiel, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wie man Hände baumeln ließ, ohne wie der letzte Vollpfosten auszusehen. 
Was beim Schlabberschlübbi der Queen machten coole Menschen bloß mit ihren Händen?
Entnervt probierte ich mehrere Arten des Hände-Baumelns aus, drehte mich um - und starrte geradewegs in MJs zusammengekniffene Augen. 
Oh man. Meine Hände erstarrten mitten in der Luft. 
Wäre ich mal doch bei der Handy-Alternative geblieben.

"Was zur Hölle ist das?", fragte mich MJ statt einer Begrüßung, starrte auf meine Hose und sah mir dann so irritiert in die Augen, dass ich einen Moment lang dachte, ich hätte gar keine Hose an. Wir sahen beide an mir runter - MJ mit hochgezogenen Augenbrauen, ich sichtlich erleichtert - und schauten uns dann wieder in die Augen.
"Eine ... Hose?" 
Eigentlich war es nicht nur eine Hose. Es war meine Lieblingshose. Dad und ich hatten sie auf einem Flohmarkt für so wenig Geld ergaunert, dass selbst mein dürftiges Taschengeld den Einkauf überlebt hatte. Dann wurde die einst sterbenslangweilige Jeans von uns aufgepeppt - ich nähte sie enger, Dad wiederum packte seine Stofffarbe raus und verpasste ihr einige erstaunlich gut gewordene Zitronen auf den Hosentaschen, sowie kleine Exemplare auf den Beinen. Es war das erste Mal, dass wir zusammen einen Flohmarktfund aufgewertet hatten und auch wenn daraufhin viele Kleidungsstücke folgten, hing ich an der Hose besonders. 
 
"Gefällt sie dir nicht?", fügte ich noch hinzu, als MJ weiterhin stumm auf die Jeans starrte und bereute beinahe, das Treffen eingefädelt zu haben. Wenn schon die Begrüßung an meiner Hose scheiterte, war die ganze Idee hinfällig. Wir würden keine Freunde werden.
Wenigstens fand ich die Kontrolle über meine Hände wieder, die ich prompt in meinen Jackentaschen vergrub.
"Nein nein, es ist ... cool." MJ zuckte mit den Schultern und ging dann in Richtung von Peter's genannten Platz los, wobei sie mich mit einem Kopfnicken zu sich lotste. Ich wägte ab, ob eine Ausrede und ein Rückzug nicht doch die bessere Idee wäre, folgte ihr dann jedoch.
"Es ist nur ...", sie zögerte, sah erneut auf meine Hose und hob eine ihrer Augenbrauen, "etwas ungewöhnlich. In der Schule ist deine Kleidung so grau, dass man dich vom weiten für einen weiteren Spind hält."
Verunsichert darüber, ob das nun als Kompliment oder Beleidigung gemeint war, lachte ich gestellt und bog mit MJ in die 171th Street ein. Diese war deutlich belebter, als die Jewel Avenue und pulsierte geradewegs vor Passanten, die es schrecklich eilig hatten. Als sich eine Teenager-Gruppe unsanft an uns vorbeidrängelte, murmelte MJ ihnen ein probiert als mal mit Gemütlichkeit, ihr Esel hinterher, hob beide Mittelfinger in Richtung ihrer Rücken hoch und drehte sich dann wieder zu mir, als wäre nie etwas passiert.

"Leidet dein Kleiderschrank an Schizophrenie?"
Dieses Mal wirkte der Ausdruck in MJs dunklen Augen um einiges weicher. Es war wohl nicht als Beleidigung gedacht; vielleicht könnte man das Treffen doch noch retten.
"Höchstens ein bisschen."
Als ich meinen Blick über die mir noch fremde Straße schweifen ließ, fiel mir zwischen den vielen Silhouetten und Backsteingebäuden ein unscheinbares, mit Lichterketten erhelltes Fenster auf. Die Tür des Gebäudes war bereits zerkratzt und das daneben stehende Schild sah aus, als würde es einem halbwegs starken Luftstoß nicht überleben, aber die Kaffeetasse darauf war eindeutig.
 Es musste das Café sein, welches Parker meinte. Jetzt musste ich nur noch möglichst geschickt einfädeln, dass der Tee dort womöglich zu den verdächtigen Objekten gehörte.

"Ich wollte nicht direkt für schräg gehalten werden", fügte ich dann noch hinzu und strich andächtig über den Jeansstoff, "Die Neue sein und gebastelte Kleidung zu tragen ist eventuell etwas viel für den Anfang. Ich wollte es schlich halten, um nicht ausgegrenzt zu werden. Hat gut geklappt, wie man sieht."
Anstatt Mitleid zu äußern, schüttelte MJ  über meine Aussage nur den Kopf. 
"Du denkst wirklich, dich zu verstellen ist eine gute Entscheidung?"
Ich würde MJ gerne fragend ansehen, diese inspizierte jedoch weiter die Umgebung, starrte jedoch aus unerfindlichen Gründen eher auf die Dächer der Gebäude.
"Willst du wirklich mit Menschen befreundet sein, die dich ausgrenzen könnten, wenn du das Falsche anziehst? Wenn sie das tun, sind das nur weitere Esel. Und wenn du dich für Esel verstellst, bist du selbst einer." 
Die Wahrheit dieses Satzes traf mich stärker, als gedacht. Ich dachte an Flash Thompson, der mich auch ohne meiner Lieblingssachen nicht für voll nahm. An Betty, die meine Existenz mit Beginn der Pause ausblendete und an all die Schüler, die nicht ein Mal probierten, mir an den ersten Tagen zu helfen. Wenn ich eh an der Schule unterging, wieso sollte ich mich dann zurückhalten? Wieso nicht einfach ich selbst sein, so wie MJ?
"Esel ist wirklich deine Lieblingsbeleidigung, oder?", murmelte ich, doch MJ wandte sich wieder von mir ab und fuhr damit fort, die Dächer um uns herum zu beobachten.

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Eine Viertelstunde später irrten wir immer noch durch die Seitenstraßen und entfernten uns weiter von dem Café. Der nervöse Klumpen in meiner Brust schwoll  vor schlechtem Gewissen an, als ich MJ hinterhertrottete und ihr dabei zusah, wie sie nach Hinweisen suchte, die sie nie und nimmer hier finden würde. Was auch immer sie sich von diesem Ausflug erhoffte; es würde nicht passieren.
"Es gab kein Telefonat", platzte es schließlich aus mir heraus, als MJ gerade dabei war, in eine verdächtig aussehende, mit Mülleimern vollgestellte Seitengasse einzubiegen. Verwirrt blieb sie stehen, drehte sich zu mir und zog ihre Augenbrauen so weit in die Höhe, dass ich unweigerlich schlucken musste.
"Also ... Peter hat telefoniert", fügte ich dann schnell hinzu, ignorierte mein Herzklopfen, so gut es ging und versuchte, weiterhin zu lächeln, "aber ich habe es nicht wirklich mitgehört. Er hat den Platz hier erst erwähnt, als er mich bei der Verfolgung ertappt hat und ich zugegeben habe, dass ich mich gerne mit dir anfreunden würde." Als MJ nicht auf meine Beichte reagierte, ließ ich das Lächeln sein und starrte stattdessen auf ein gekrakeltes Graffiti quer über MJs Lockenkopf. "Ich ... er hat mir das Café dort empfohlen. Soll gut und günstig sein. Und ich dachte, wenn ich dich zum Abhängen überreden kann, dann haben wir vielleicht Spaß und - aber das war arschig, es tut mir leid, und -" 

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