3: Frauensache

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Ich hätte nicht gedacht, dass ich bereits am Lageplan der Schule scheitern würde. 
Als mir die nach Pfefferminzbonbons riechende Sekretärin den Stapel Unterlagen in die Hand drückte und mich mit einem viel Erfolg, Honey in die große, weite Schulwelt hinaus schickte, war ich noch froh über die skizzierte Mappe. Pläne lesen konnte ich. Striche waren Striche, Korridore waren Korridore und Klassen waren Klassen. Alles easy, alles verständlich.
Nur war ich als moderner Teenager nicht darauf vorbereitet, dass mir kein Navi das Denken abnehmen würde.
Ich konnte nicht gedankenlos einem Punkt hinterherlaufen, sondern musste mich tatsächlich mit der Mappe auseinandersetzen; etwas, was ich nie gelernt hatte. So landete ich schließlich heillos überfordert in einem Gang, der laut dem Plan eigentlich zwei Stockwerke über mir existieren sollte und wusste nicht einmal, wie rum ich die Skizze eigentlich halten sollte.
Doch nicht alles easy und verständlich.

"Verzeihung?" Meine Stimme überschlug sich vor Stress, als ich mich schließlich traute, einen der verbleibenden Schüler, der noch lässig gegen die Spinde lehnte und am Handy daddelte, um Hilfe zu bitten. Mit der nervösen Karikatur eines Lächelns hielt ich den Lageplan in seine Richtung, versuchte, das Zittern meiner Hände zu überspielen und hob fragend meine Augenbrauen. "Mein Hirn will gerade nicht so richtig ... ich muss in den Englisch-Unterricht von ... Mrs. Winterhalter? Raum E12?"
Erst wollte der Junge nicht von seinem Handy aufsehen. Als ich mit immer noch zitternder Hand in der Position stehen blieb und auch das Lächeln wie festgefroren auf meinem Gesicht blieb, seufzte er schließlich, nahm mir den Lageplan aus der Hand und studierte ihn kurz.
"Da", sagte er schließlich und drückte Kaugummi kauend seinen Zeigefinger auf das kleine Kästchen, welches mit E12 gekennzeichnet wurde. "Da musst du hin."
Ich konnte immer noch nicht mit dem Lächeln aufhören, sondern sah nur stumm zwischen dem Kästchen und dem Fremden hin und her. 
"Danke, dass ..." Ich wollte schon antworten, dass ich durchaus genügend Hirnzellen besaß, um einen Buchstaben und zwei Ziffern auf einem Blatt zu erkennen und nur der Weg dorthin ein Problem war, als der Junge wieder sein Handy aus der Hosentasche fischte und mich keines Blickes mehr würdigte. "...Ist sehr hilfreich."
Mit erschlafften Schultern stiefelte ich zurück in den Gang, aus dem ich gekommen war. Ein Mal drehte ich mich noch in der Hoffnung um, dass er mir nachsehen und signalisieren würde, ob zumindest die Richtung stimmte, doch seine Aufmerksamkeit war bereits auf seine wachsende Kaugummi-Blase gelenkt. 
Der Award für die schlechteste Hilfestellung des Jahres ging definitiv an diesen Typen. 
Der für das nervigste Kaugummi-Kauen auch. 

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Es kam, wie es kommen musste. Als ich endlich die richtige, hellbraune Tür erreichte, hatte ich nicht nur zwei gefühlte Nervenzusammenbrüche hinter mir - sie war auch bereits geschlossen. Der Unterricht hatte begonnen  und mir stand nicht nur das klischeehafte, sondern auch zutiefst unangenehme Szenario bevor, als neue Schülerin in den Unterricht zu platzen und von allen angestarrt zu werden. 
Genau das, was ich am allermeisten vermeiden wollte. 
Ein tiefes Seufzen bahnte sich aus meinen Lippen, als ich an mir herunter sah und sicher ging, dass zumindest kein verräterisches Stück Klopapier an meinem Schuh festklebte, um mich direkt als potentielle Lachnummer zu entlarven. Alles an mir schien jedoch so normal und unauffällig zu sein, wie geplant. Kurz bereute ich meine Kleiderwahl mit den schlichten Schuhen, der schlichten Jeans und dem so unauffälligen T-Shirt, dass ich innerhalb der Jahre immer wieder seine Existenz in meinem Kleiderschrank vergaß. Normalerweise trug ich mindestens eine Sache, die der Geschmacksverwirrung meines Dads alle Ehre machte und mit ihrem Schnitt, Muster oder Farbe aus der Reihe tanzte.
Heute wollte ich nur Eins mit der Klassenwand werden. 

"Okay." Ich überlegte kurz, was ich am besten mit meinen Händen machte, um nicht komisch zu wirken und ihr Zittern zu verstecken - die Unterlagen wie ein Schild an meine Brust zu pressen schien angebracht - schloss ein letztes Mal meine Augen und nickte kurz, als ich an die Übung des letzten Abends dachte. 
"Hi, ich bin Allie." Ja. Das war machbar. Vier Worte. Das Risiko, sich dabei zu verhaspeln, war gering. "Hi, ich bin Allie", wiederholte ich und atmete tief aus. Ja, das würde gehen. Verhaspeln würde ich mich nicht. Rot Anlaufen eventuell, aber vielleicht könnte das noch als kleines Rouge-Unglück durchgehen. Hauptsache, ich erlitt keine spontane Panikattacke und stellte mich als Alberta vor. 
Bloß. Nicht. Alberta. 
"Hi, ich bin Allie", übte ich ein letztes Mal flüsternd, legte meine schwitzige Hand auf die Türklinke und drückte sie dann runter.
Bloß nicht Alberta

Versehentlich vernetztWo Geschichten leben. Entdecke jetzt