[4:00 Uhr; Stadtrand]
Die Kieselsteine des kleinen Pfades knirschten intensiv, als Ludwig über sie sprintete und dabei auf die Seite schleuderte. Die ersten Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, sein Puls schlug stetig in schnellem Tempo weiter. Wo er sich genau befand, wusste er nicht, jedoch verrieten ihm die immer weniger werdenden Straßenlaternen, dass er sich nach und nach von der sicheren Kleinstadt entfernte.
Seine Vernunft hätte ihn vorzugsweise wieder zurück ins Gasthaus gelotst, aber die Neugierde und das Verlangen jemand Wichtiges endlich wiederzutreffen trieb ihn weiter an und stellte jegliche Art von Logik und Denken in den Schatten. Es war mehr als unüblich für den Deutschen, etwas kopflos und ohne durchdachten Plan zu vollziehen, weswegen gerade diese eigenartige Nacht neue Seiten von ihm aufzeigte.
Ludwig konnte aus reinem Bauchgefühl handeln.
Ludwig konnte seinen Kopf, wenn auch nur für kurze Zeit, ausschalten.
Ludwig konnte seiner Intuition folgen.Und all das nur aufgrund einer fremden Person, die er im letzten Leben und davor kannte, liebte und verlor.
Erinnerungen konnten vergessen werden, Gefühle blieben erhalten; das hatte Ludwig nun eingesehen.
Denn er hatte vor vielen Jahren geschworen, niemals zu vergessen.
Auch wenn viele Fragmente in seiner Gegenwart noch unentdeckt waren, voll und ganz hatte er den jungen Mann mit der niedlichen Locke nie aus seinem Gedächtnis verbannen können.
Denn er war immer da...Tief in seiner Seele und seinem Herzen verankert wie ein versteckter Schatz inmitten der tiefblauen See.
Und seine Schatzkarte war das Rufen seines Herzens, das ihn über Stock und Stein führte.Ludwig erreichte schnaufend die letzte, nur noch leicht glimmernde Straßenlaterne am Rande der Stadt. Die überraschend kalte Luft streifte pfeifend seine Ohren bis sie an den Spitzen völlig rot und betäubt wurden, während sein restlicher Körper noch vom Rennen brennend heiß war. Seine Sicht auf den Trampelpfad mit den eingedrückten Traktorspuren wurde immer dunkler und undeutlicher, je weiter er sich von der sicheren Lichtquelle entfernte. Ludwig roch den frischen Duft von morgendlichen Gräsern, Bäumen und Pflanzen; er hörte den Wind, der durch das Blätterdach und Nadelkleid einiger Bäume rauschte und das laue Zirpen der nächtlichen Insektenwelt unterstrich die Szene. Er musste direkt vor dem Eingang eines tiefen Waldstücks stehen, soviel stand fest.
Ludwigs Schritte wurden langsamer, sein schrecklich rasendes Herz wurde nach und nach immer stiller und zunächst hatte der Deutsche das Gefühl, jegliche Orientierung verloren zu haben; die vorhin gespürte Verbundenheit erlosch wie die Flamme eines glühenden Streichholzes. Es war wie ein Schnitt einer Schere durch ein dünnes Stoffband.
Aber warum?
Was war passiert?Ludwig spürte, wie die brennende Hitze in seiner Brust abnahm und die schmerzvolle Kälte einen eisigen Schleier über sie zog. Noch nie hatte er sich so hoffnungslos verloren gefühlt. Noch nie war er so kurz davor, sich endlich vollkommen zu fühlen...So kurz davor, die Person zu finden, die sein Herz und seine Seele, nein, die er suchte. Und nun schien es, als würde ihm all dies auf einmal wieder entrissen werden.
Irgendetwas musste vorgefallen sein.Aber Ludwig weigerte sich, hier und jetzt aufzugeben. Er war so kurz davor...so verdammt kurz davor, ihn zu finden. Und wo auch immer sich der Junge mit den Bernsteinaugen befand, Ludwig würde ihn auf der ganzen Welt suchen und schließlich finden. Deswegen rannte er weiter, immer und immer weiter in den dichten, hügeligen Wald; voller Hoffnung, doch noch ein kleines Lichtlein am Ende eines schier endlosen Tunnels zu erblicken.
Und dieses persönliche Lichtlein trug genau einen Namen...~♡~
[Einige Minuten zuvor; Feldweg]
Keuchend und mit fiesem Brennen im Hals rannte Feliciano den unebenen Feldweg nahe des Gasthofs entlang. Die verhältnismäßig kühle Abendluft, die sich wie ein eisiges Messer durch seine, nach Luft gierende, Lunge schnitt, färbte seine Wangen sowie die Nasenspitze in ein sattes Rot. Seine Beine wurden müde; seine Ausdauer neigte sich dem Ende zu. Gäbe es hier nichts zu gewinnen, hätte er schon längst aufgegeben und die weiße Fahne gezückt. Er hätte kehrt gemacht, jegliche Schwierigkeiten einfach fallen gelassen und sich lieber an den Dingen erfreut, die er bereits hatte.
Feliciano stolperte, schaffte es aber, sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Aber diesmal war er so erfüllt von Entschlossenheit, von Mut und Hoffnung, dass das Letzte, was er täte, Kapitulation wäre.
Sein Herz schlug stetig im gleichen, bittersüßen Takt...immer lauter und kräftiger. Immer lauter rief es nach dem Namen des Gesuchten, inmitten tiefer, wilder Meereswellen - seine Vergessenheit - die jedes Wort verschluckten...Und die Verbundenheit, die sich wie ein Band immer enger und straffer zusammenzog, steigerte seine Sehnsucht.Müde und schwer atmend schaute der junge Italiener zum Himmel hinauf, nicht daran denkend, einfach stehen zu bleiben und einmal kräftig durchzuatmen. Der schöne Sternenhimmel mit dem silbrigen Vollmond schien zu verblassen und sich hinter dem dichten Blätterdach der nah beieinanderstehenden Bäume zu verstecken. Die Geräusche nachtaktiver Tiere, das braune, herabgefallene Laub und das feuchte Gras, das an seinen Beinen kitzelte, verrieten ihm, dass er, ohne es zu bemerken, ein kleines Waldstück betreten hatte. Viele Hügel und Schluchten prägten den Ort, Nadel- sowie einige Laubbäume verschönerten die Szenerie. Man hörte einen Bach plätschern und das größere Geröll an den Seiten des schmalen Waldwegs, schenkte dem wunderschönen utopischen Paradies einen gewissen Charme.
Feliciano spürte die unregelmäßigen Hebungen und Senkungen im Boden, erschreckte sich manchmal, wenn er mit dem Fuß dagegen stieß und daher öfters den Halt verlor. Er sah den Weg nur noch schwach vor sich, weswegen er sich kurzerhand der nützlichen Handytaschenlampe bediente. Allein durch den mittelgroßen Lichtkegel, der einen kleinen Teil der Umgebung wenigstens etwas erleuchtete, erschien der Wald gar nicht mehr so unheimlich groß und unheilvoll wie anfangs gedacht. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihm die Uhrzeit.
"Fünf vor vier...", wisperte Feliciano vor sich hin, "...in einer Stunde dürfte es schon heller werden."Ein kleines Lächeln schlich sich auf das Gesicht des Siebzehnjährigen, als er weiterhin den immer steiler werdenden Waldweg entlang sprintete.
Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis er denjenigen, den er suchte, endlich fände, das spürte er.
Feliciano bog links ab.
Nicht mehr lange, und sein Ziel wäre endlich erreicht.
Feliciano flitzte einen kleinen Hügel hinauf.
Es war nur noch ein kleiner Katzensprung; ein kurzes Ausstrecken der Hand.
Der Wind rauschte durch das sichere Blätterdach und ließ sein Haar für einige Sekunden mitflattern.
Und dann...
Feliciano rannte wieder bergab, er baute Geschwindigkeit auf.
Und dann...?
Seine Beine schafften es noch knapp, mit der plötzlichen Schnelligkeit mitzuhalten.
Was dann?Feliciano erstarrte und hielt den Atem an.
Sein Fuß verfing sich bei einem Stein; er verlor augenblicklich den Boden unter den Füßen und für einen kurzen Moment stand die Welt plötzlich still. Das heiße Blut in seinen Adern rauschte wie Wellen, die an eine Brandung preschten, sein Verstand war leergefegt. Er dachte, er würde schweben, nur für einen kurzen Augenblick, ehe sein gesamter, schlaff werdender Körper den erdigen Boden traf, seitlich abrutschte und einen relativ kleinen Hang hinabrollte.
Als er endlich wieder Halt fand und schließlich in einem mehr pflanzenbesonnenen Örtchen liegen blieb, spürte er erst den bohrenden Schmerz seines Absturzes entflammen. Felicianos Sicht drohte in tiefste Schwärze gezogen zu werden, kaum hatte er versucht, seine Augen zu öffnen. Er kämpfte dagegen an, verlor jedoch vergeblich.
Und mit einem letzten, verzweifelten Atemzug, ruhte er widerwillig im Bann seiner Bewusstlosigkeit.~♡~
Durch Schicksal verbunden,
Und auf ewig gefunden.
Immer wieder würden sie sich finden,
Und alter Schmerz würde endlich linden.~♡~
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.°♡°.Wiedervereint.°♡°. | GerIta
Fanfic[Erweitertes Ende meiner GerIta Fanfiction "Stern des Himmels"] "Wo auch immer du bist auf dieser Welt, ich werde nach dir suchen." Eine neue Zeit, eine neue Chance. Doch keiner, weder Ludwig, noch Feliciano, wusste wonach sie suchten. Eine gähnende...