5. Darf ich vorstellen - Frauenheld, Hallo

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Ilvie

„Das ist eine blöde Idee. Eine echt, echt blöde Idee", zetere ich zum gefühlt hundertsten Mal hinter meiner Schwester Cam, die mich an der Hand hält und durch das Restaurant schleift. Ihr Griff um mein Handgelenk ist ziemlich fest für ihre schlanke Statur. Vermutlich hat sie Angst, ich könnte jeden Moment umdrehen und abzischen. Eine berechtigte Sorge.

„Ich weiß, du wiederholst dich", brummt Cam und wirft mir einen bösen Blick zu. „Aber es war deine Idee, Dads Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen. Also halt die Klappe und mach jetzt einfach mit."
Das hat gesessen.
„Na schön", murmele ich minder begeistert und lasse mich weiterziehen. Gemeinsam stolpern wir zwischen den Tischen hindurch zu einem runden in der Ecke, der noch unbesetzt ist.

Cam hat Recht. Gut möglich, dass ich diesen Vorschlag den anderen beiden am nächsten Morgen nach Dads Hiobsbotschaft gemacht habe, aber da war ich nicht ganz richtig im Kopf. Selbst jetzt eineinhalb Wochen später funktioniert mein Hirn nicht richtig. Ständig kreisen die Angst, Dads Worte und diverse Artikel zum Thema Bauchspeicheldrüsenkrebs aus dem Internet durch meinen Geist. Es ist schwer sich zu konzentrieren, wenn einem alles auf einmal durch den Kopf schwirrt. Die Sorge, die Trauer und der Schmerz sind in den letzten Tagen meine ständigen Begleiter. Ich fühle mich nicht mehr wohl in mir selbst, sondern vollkommen fremd in meinem eigenen Körper. Es ist, als wäre ich in ein zu enges Kleidungsstück gepresst worden, das auf meiner Haut kratzt, mir die Luft abschnürt, ohne dieses Gefühl loswerden zu können. Grauenhaft ist dafür milde ausgedrückt. Seitdem muss ich mich jedes Mal zusammenreißen, um nicht zu heulen, wenn ich Dad sehe. Aber ich schaffe es. Zumindest bis ich abends alleine in mein Bett falle. Dort ist es am schlimmsten. Dann, wenn ich das ticken der Uhr höre. Die mir vor Augen führt, wie mir die Zeit zwischen den Finger davon rinnt.

Cam und ich gehen weiter. Sobald wir den leeren Tisch mit den acht Stühlen erreichen, setzen wir uns und starren uns griesgrämig an. Cam schnippt mit dem Finger. „Hör auf so böse zu gucken. Sonst glauben die Leute noch, du stichst heute jemanden ab, anstatt deine Verlobung zu verkünden."

Ha, das wäre zu schön. Würde aber besser zu meiner derzeitigen Stimmung passen. Das hier kann nur ein Desaster werden.

„Ich versuche mein Bestes. Aber Dad wird uns das nie abkaufen. Du weißt schon, dass er Krebs und keinen Hirntumor hat. Die Sache wird uns um die Ohren fliegen."

Galgenhumor muss manchmal eben sein. Es macht das Leben erträglicher, bevor man vollends untergeht. Zur Unterstreichung meiner Worte, imitiere ich mit den Fingern wegfliegende Teile nach einer Explosion und grinse übertrieben.

„Wenn du so ein Gesicht machst, könnte man fast glauben, du hättest eine Lobotomie hinter dir", kontert Cam.

„Süß. Richtig nett", antworte ich und sie zwinkert mir zu, „Gerne doch", was uns beide die Anspannung nimmt und uns wie kleine Mädchen albern kichern lässt.

„Wie ich sehe, amüsieren sich die Damen bestens alleine", reißt uns eine tiefe, männliche Stimmung hinter mir aus der Blödelei. Sofort springt Cam auf. „Ah, Caiden! Du bist da. Ich danke dir. Ich hatte schon Angst, du lässt uns sitzen."

„Ich lasse mir doch diesen Spaß nicht entgehen", höre ich die Stimme erneut, die sich nun etwas gepresster anhört, als seine unbeschwerten Worte vermuten lassen.

Na schön, ich habe lange genug gewartet. Ich muss es hinter mich bringen und meinen Verlobten begrüßen. Was für eine Freude. Positiv denkend stehe ich vom Stuhl auf, kleistere mir ein Lächeln ins Gesicht und drehe mich zu den beiden um. Ich sehe gerade noch, wie Cam einen dunkelhaarigen Mann umarmt. Sobald sie zurücktritt und er sich aufrichtet, bemerke ich wie breit gebaut und groß er ist. Neben ihm wirkt meine Schwester winzig. Mir wird es neben ihm gleich ergehen. Seine dunkelbraunen Haare sind oben länger, wie um sich darin festzukrallen, seitlich hat er kurz geschorene Sidecuts, die seine sexy Kopfform betonen. Bis heute war mir nicht einmal bewusst, dass man eine sexy Kopfform haben kann. Doch dieser Typ hat sie offensichtlich. Wie alles an ihm sexy wirkt und nach geballter Männlichkeit schreit. Über das markante Gesicht, mit etwas länger getrimmtem Dreitagebart und den schokoladenbraunen Augen, die mich sofort an Zartbitter erinnern, bis hin zu den Tattoos, die seitlich an seinem Kragen hervorblitzen. Er sieht durch und durch wie ein Musiker, ein Biker oder Tätowierer, und auf alle Fälle wie ein Womanizer aus. Was hat sich meine Schwester nur dabei gedacht? So heiß dieser Kerl ist, bedeutet er Ärger. Großen.

Höflichkeitshalber strecke ich ihm kurz und knapp meine Hand entgegen. Immerhin habe ich eine gute Erziehung genossen. „Hallo, ich bin Ilvie. Schön Sie kennenzulernen und dass sie uns helfen wollten. Dürfte ich kurz mit meiner Schwester sprechen?"

Bevor er antworten kann oder meine Hand länger als drei Sekunden seine berührt, schnappe ich Cam am Ellbogen und ziehe sie zwei Schritte Richtung Tisch.

„Ist das dein ernst? Mit dem soll ich verlobt sein? Nie und nimmer. Ich dachte, du bringst einen netten Freund mit, einen, der halbwegs zu mir passt und der durchschnittlich aussieht. Aber der Kerl schreit geradezu nach Musiker und ich date keine Musiker, das weiß jeder. Außerdem ist er viel zu heiß, um mein Verlobter zu sein. Mit so einem würde ich im echten Leben nie ausgehen und das weiß, Dad. Schau ihn dir doch nur an, der ist ein Schlampenmagnet."

Beide gucken wir prüfend zu ihm hinüber. Da er augenscheinlich alles belauscht, lächele ich unschuldig. „Nichts für ungut."

Er blinzelt, fühlt sich womöglich im falschen Film, was ich gut verstehen kann. Mir geht es immerhin genauso. Dennoch meine ich ein Zucken seiner Mundwinkel erkannt zu haben. „Nein, nein, kein Problem. Redet bloß weiter, als wäre ich nicht da und könnte nicht hören, wie über mich herzogen wird. Das ist ziemlich erfrischend."

„Das ist nichts Persönliches. Dürfte ich mich nun wieder mit meiner Schwester reden? Danke."

Langsam werde ich nervös. Ich muss das klären und zwar schnell, bevor Mum und Dad auftauchen und diese ganze Szene komplett aus dem Ruder läuft. Schon habe ich mich wieder an meine Schwester gewandt, da ertönt hinter mir ein tiefes Räuspern, das mir eine Gänsehaut verursacht. Diese kann aber auch an der plötzlichen Nähe zu dem Typen liegen, der sich einfach so an mich herangepirscht hat.

„Nein, darfst du nicht. Ich nehme das sehr wohl persönlich und würde mich gerne an dem Gespräch beteiligen, wenn ich schon das Thema bin."

Mist, ich wusste, der macht Ärger. Demonstrativ lässig drehe ich mich herum und sehe mich Auge in Auge mit dem attraktivsten Mann, der mir je begegnet ist. Und den ich schnellstens wieder loswerden muss. Am besten funktioniert das mit Zickenalarm und Abwehrhaltung.

„Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen das Du angeboten zu haben. Könnten Sie bitte einen Schritt zurücktreten. Das hier ist eine Familienangelegenheit, die sie nichts angeht."

„Püppchen, wir sind verlobt, da darf ich mir solche Freiheiten herausnehmen", mault er und grinste mich selbstgefällig an, als hätte er den Punkt gewonnen. Bei dem Wort Püppchen schnappt nicht nur meine Schwester nach Luft, auch in mir, bringt das Wort etwas zum Brodeln.

Süßer, wenn du so weiter machst, wirst du jeden Moment meine Kehrseite sehen."

„Baby, nichts dagegen. Ich würde zu gerne von hinten auf dich hinabschauen, während du meinen Namen stöhnst", raunt er allen Ernstes und tritt einen Schritt auf mich zu. Neben mir zischt Cam ungläubig: „Caiden, spinnst du? Was soll der Blödsinn", während ich nun diejenige bin, die nach Luft schnappt und nach hinten gegen die Stuhllehne stolpert. Reflexartig greift er nach meinem Ellbogen, um mich zu stützen. Schnell richte ich mich kerzengerade auf und befreie mich aus seinem Griff. Ich muss wieder Herr, beziehungsweise Frau über diese Situation werden und will mir vor diesem Typen keine Blöße geben.

„Das wird so was von nie passieren. Okay, das war's. Ich gehe. Oder besser gesagt, Sie gehen, bevor unsere Eltern auftauchen. Ich will das nicht auch noch meinem Dad zumuten. Das war eine blöde Idee. Auf Wiedersehen."

Schlagartig verändert sich bei der Erwähnung meines Dads sein Gesichtsausdruck. Er wirkt beinahe reuevoll. „Es tut mir leid, wirklich. Das war nur ein Scherz und total unpassend. Ab sofort werde ich der perfekte Gentlemen sein."

Ich schnaube belustigt. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, geschweige denn meinen Mund halten. „Ich denke, du weißt nicht einmal, wie man dieses Wort buchstabiert."

„Jetzt sind wir also doch per Du", fragt er spitzbübisch grinsend, als hätte ich ihm ein Bonbon zugesteckt. „Aber ich meine, was ich gesagt habe. Ich werde mich bemühen, meine Rolle zu spielen, wenn es sein muss. Für Cam mache ich das, sie ist eine gute Freundin."

My Blind Wedding DATEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt