Kapitel 8

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Er war überrascht, als der Film endete und der Abspann über den Bildschirm flimmerte. Die letzten Stunden waren gefühlt viel schneller vorbeigegangen als sie sollten. Sein Körper merkte es. Seine Glieder waren schwer und die Erschöpfung nahm langsam Überhand an. Die Erfahrung der letzten Monate zeigte ihm, dass er diesen Status nicht mehr lange halten konnte. Der Gedanke ließ ihn schaudern.

Die Ablenkung hatte gut getan. Nicht nur der Film, sondern auch das Gespräch über Hovercars und andere Flugsysteme. Manchmal lagen Jahre zwischen zwei Missionen. Sich mit der neusten Technik der aktuellen Zeit vertraut zu machen, war ihm immer leicht gefallen. Bisher hatte er nicht weiter darüber nachgedacht, sondern es als ein weiteres Talent hingenommen, das ihm eingehämmert worden war. Jetzt glaubte er, dass es vielleicht gar nichts damit zu tun hatte. Die Geschichtsbücher sagten, er war ein Soldat gewesen und Captain Americas Freund. Viel mehr Informationen gab es nicht über ihn, also wer wusste das schon?

Steve vermutlich. Steve könnte eine Menge seiner Fragen beantworten.

Er rieb sich die müden Augen und sah zur Seite, als es neben ihm leise raschelte. Stark – Tony, nicht Howard. Tony, nicht Howard – zog sich im Schlaf das Kissen weiter unter seinen Kopf und stieß schwer die Luft aus. Sein Gesicht war nicht entspannt und manchmal murmelte er unmissverständliche Dinge. Tony Stark war ein unruhiger Schläfer. Nichts daran wirkte erholsam.

Er konnte es so gut verstehen.

Schlaf bedeutete, schutzlos und der Welt ausgeliefert zu sein. Nie war man so leicht anzugreifen, als in dem Moment, wenn Körper und Geist nicht unter Kontrolle waren.

Und dann waren da die Träume ...

Die meisten Erinnerungen, die er in den letzten Monaten wieder hergestellt hatte, waren ihm im Schlaf gekommen. Fetzen von Gesichtern, Namen oder Orten. Er konnte nur ahnen, wie viele davon real waren und wie viel nur ein Traum. Manchmal wusste er es einfach. Vor allem bei den Erinnerungen, die mit diesen Tonnen an Emotionen verbunden waren. Er konnte sie nicht einmal alle benennen. Manchmal wachte er mit einem Lächeln auf den Lippen auf, das sich völlig falsch anfühlte. Manchmal liefen ihm Tränen übers Gesicht. Andere Mal verspürte er so viel Scham und Schuld, dass es ihm eine Weile unmöglich erschien, überhaupt aufzustehen. Es war Fluch und Segen. Er lechzte danach und spürte gleichzeitig die Panik in seiner Brust aufsteigen.

Nach drei Monaten konnte er nur zwei Dinge mit Sicherheit sagen:

Erstens: Steve Rogers war sein Freund gewesen. Es war kein Werbegag oder grausame Manipulation. Er erinnerte sich nicht an viel, aber an genug.

Zweitens: Er war nicht James Buchanan Barnes und würde es auch nie mehr sein. Der ehrenvolle Soldat, der an der Seite seines Freundes in den Krieg gezogen war, starb vor über siebzig Jahren. Er war nicht mehr als ein Schatten dieser Person, die denselben Namen trug. Er könnte noch hundert Jahre leben und wäre nicht in der Lage, diesen Namen wieder reinzuwaschen.

Das leise Stöhnen lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf Stark. Die Finger des Mannes krallten sich im Bettlaken fest. Die Augäpfel unter seinen Lidern bewegten sich hin und her, während er erneut anfing, leise vor sich hin zu murmeln.

Nachdenklich streckte er die Hand aus, halb dabei Stark zu wecken. Albträume waren elendig, aber der Mann schien seinen Schlaf zu brauchen. Selbst wenn es schlechter Schlaf war. Dann schloss Stark den Mund und seine Gesichtszüge entspannten sich ein wenig. Er sah seinem Vater so ähnlich!

Die Erinnerungen an Howard Stark waren genauso schwammig wie an jeden anderen Menschen aus seinem alten Leben. Er hatte jedoch beschlossen, weniger nach den Fakten zu gehen, sondern mehr nach seinem Bauchgefühl. Wenn er an Howard dachte, verspürte er keine negativen Gefühle. Nichts ließ seine Alarmglocken losgehen. Da war ein Grundvertrauen, zusammen mit der absoluten Sicherheit, dass es nichts gab, das Howard Stark nicht reparieren konnte.

Darum war er vor zwei Tagen hier gelandet. Der letzte Hydra-Angriff hatte ihn stark getroffen. Es war knapp gewesen. Zu knapp. Den Peilsender loszuwerden und seinen Arm im Verlauf so zu zerstören, war im Affekt geschehen. Er hatte gar nicht richtig über die Konsequenzen nachdenken können. Bis ihm eingefallen war, dass dieser Arm nicht einfach heilen würde wie der andere. Eine ganze Weile hatte er nicht gewusst, was er machen sollte, bis er ein Plakat von Stark Industries mit Howard gesehen hatte.

Nein, mit Tony.

Er hatte gewusst, dass Howard Stark schon vor Jahren gestorben war und sein Sohn die Führung der Firma übernommen hatte. Es gab nichts über die Avengers, was er nicht gelesen hatte – egal ob für die Öffentlichkeit zugängliche Berichte oder die Art Informationen, für die man eine Weile suchen musste. Alle Fakten über jeden Avenger waren in seinem Kopf. Es hätte ihm klar sein müssen, dass er zu Tony Stark ging und nicht zu seinem Vater. Doch das war es nicht gewesen. Sein Hirn spielte ihm manchmal frustrierend viele Streiche.

Doch er bereute es nicht. Das hier lief nicht so, wie er das wollte. In seiner Vorstellung wäre er schon längst wieder im Untergrund, zusammen mit einem voll funktionsfähigen Arm. Allerdings hatte er keine Zweifel daran, dass Tony ihm helfen konnte und würde. Warum auch immer. Er verstand die Motivation dahinter nicht, für den Moment erschien es ihm aber auch nicht wichtig.

Als die Musik verstummte, blickte er wieder zum Fernseher. Es wäre einfach sich hinzulegen und ebenfalls ein wenig zu schlafen. Ein Teil von ihm war sogar ziemlich erpicht darauf. Das hier war ein Bett. Ein richtiges Bett mit einer weichen Matratze. Es war so verlockend ...

Ein wenig wehmütig lehnte er sich zurück und schaltete den zweiten Teil von Zurück in die Zukunft ein.



Kurz vorm Ende des dritten Teils schreckte Tony auf. Er saß von einer Sekunde auf die anderen aufrecht im Bett, die Hände erhoben. Sein Atem ging schwer, übertönte sogar die Geräusche vom Fernseher. Das zu beobachten brachte ihn selbst dazu, jeden Muskel im Körper abwehrend anzuspannen.

Als Tony ihn ansah, lag jedoch keine Feindseligkeit in seinem Blick. Eine Menge Verwirrung, bis hin zur Fassungslosigkeit. Der Blick wanderte runter aufs Bett, dann zum Fernseher und dann wieder zu ihm.

„Hi?", fand Tony als Erster das Wort. Seine Stimme klang ein wenig zittrig. Den Rest bekam er erstaunlich schnell wieder unter Kontrolle. „Okay, das ist ein wenig unheimlich. Wie lange habe ich geschlafen?"

„Vier Stunden und dreiundzwanzig Minuten."

„Yeah, und diese Genauigkeit macht es nicht weniger unheimlich." Tony rutschte an die Kante des Bettes, strich sich mit beiden Händen durch die Haare und sah aus dem Fenster. Die Sonne schien warm und hell ins Zimmer. Er wusste nicht, worüber Tony nachdachte, aber es wirkte so intensiv, dass er das Gefühl hatte zu stören.

Auf dem Bildschirm gab Tannen einen Schuss im Duell gegen Marty ab, was Tony leicht zusammenzucken ließ. „Du guckst das immer noch?" Er kniff ein wenig die Augen zusammen und sah irgendwie angestrengt aus. „Das ist der dritte Teil."

„Sie sind gut", fühlte er das Bedürfnis sich zu verteidigen.

„Sag ich ja", bemerkte Tony schnaubend und stand auf. Seine Knochen knackten, als er sich streckte, und das herzhafte Gähnen ließ nicht darauf schließen, dass er wirklich wach war. Umso irritierender war es, mit was für einen scharfen Blick er ihn bedachte. „Ich bin sicher die Antwort zu kennen, aber hast du geschlafen?"

„Nein."

„Warum auch?" Tony schnalzte missbilligend mit der Zunge, schnappte sich das StarkPad, das immer noch auf dem Bett lag, und ging Richtung Tür. „Hol das nach. Ich muss ein paar Dinge erledigen und bin vor heute Abend nicht zurück."

„Was ist mit meinem Arm?"

Tony blieb mit der Hand auf der Klinke stehen und drehte sich zu ihm um. „Hast du Schmerzen?"

Er schüttelte den Kopf.

„Dann kann das auch bis heute Abend warten. Weißt du, ich habe noch andere Dinge zu tun. Eine Firma zu leiten, zum Beispiel."

„Pepper Potts ist CEO von Stark Industries."

Tony blinzelte. Er wirkte ziemlich ertappt. „Uhm ... ja? Aber es ist immer noch meine Firma?" Tony gab ein Brummen von sich, was alles und nichts heißen konnte. „Es ist zu früh für so einen Scheiß. Später machen wir mit deinem Arm weiter. Clint bleibt sicher hier und leistet dir Gesellschaft."

Das gefiel ihm nicht. Nichts davon gefiel ihm. Er hatte schon viel zu viel Zeit hier verschwendet. Das hier waren Steves Freunde. Früher oder später würde ihm jemand Bescheid geben oder er würde von alleine hier auftauchen. Das durfte auf keinen Fall passieren.

Missmutig blickte er auf seine linke Hand, die sich nur mühselig zu einer Faust schloss. Es tat nicht weh, aber richtig funktionsfähig war sein Arm noch lange nicht. „Ich brauche keinen Babysitter", ließ er Tony nach einem Moment wissen.

Was daran so witzig war, dass es Tony zum Lachen brachte, wusste er nicht. Es war ihm auch egal. „Mach was du willst. Wenn du etwas brauchst, dann frag JARVIS." Tony war schon halb aus der Tür raus, als er stehenblieb. Kurz zögerte er, dann schob er die Hand in seine Hosentasche. Im nächsten Moment flog etwas direkt in seine Richtung. Er fing es reflexartig mit seiner rechten Hand.

Es war eine Hundemarke mit seinem Namen drauf. James Buchanan „Bucky" Barnes war in feiner Schrift in das Metall graviert.

„Streich mit dem Finger feste über die Schrift", hörte er Tony über das Rauschen in seinen Ohren sagen.

Mit wild klopfenden Herzen tat er genau das.

Sofort ertönte ein leises 'Bling' und über der Marke öffnete sich ein Fenster in der Luft, ähnlich wie bei Tonys StarkPad oder dem großen Computer in seiner Werkstatt. Dort war ein Foto von ihm, das er schon aus dem Museum kannte. Es zeigte ihn in Uniform und mit ernsten Gesicht. Daneben stand ein Text, der sein früheres Leben zusammenfasste. Zögerlich scrollte er weiter runter, nur um mehr Informationen über sich selbst zu lesen. Nichts Persönliches, nur simple Fakten. Aber da waren noch mehr Bilder. Bilder, die er noch nicht kannte. Von ihm und Steve und Howard.

„Woher ...?"

„Mein Vater war sentimentaler als er zugeben würde." Tony zuckte mit den Schultern. „Er hat selten etwas weggeschmissen."

Er beugte sich nach vorne, bis seine Nase fast die Projektion berührte. Auf einem der Bilder hatte er ein Grinsen im Gesicht. Sein Blick war auf Steve gerichtet, der irgendwas mit Howard besprach. Er sah so ... zufrieden aus.

Und er konnte sich absolut nicht daran erinnern, wann oder warum dieses Foto entstanden war.

Es war schwer, den Klumpen in seinem Hals zu schlucken. Sein Mund fühlte sich mit einem Mal ziemlich trocken an. „Wir können es jederzeit ergänzen", bemerkte Tony. „Ich kann dir zeigen, wie man es an einen PC anschließt und wenn dir etwas einfällt, dann kannst du es aufschreiben und läufst nicht mehr Gefahr, es wieder zu vergessen. Ich kann auch eine Sicherheitsfunktion einbauen, wenn du willst, sodass es nur auf deinen Fingerabdruck reagiert. Oder wir verbinden es mit einem Sender in deinem Arm. So hat niemand außer dir Zugriff darauf."

Seine Finger schlossen sich zaghaft um die Marke und die Projektion hörte auf. „Warum?", war das Einzige, was gerade durch seinen Kopf ging.

„Als Plan B?" Tony klang selbst nicht sonderlich sicher. „Wenn du wieder einen Blackout haben solltest, musst du nur die Marke in die Hand nehmen und hast alle Informationen, die du brauchst." Er schwieg kurz und verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. „Du kannst mich damit auch jederzeit kontaktieren."

Das war nicht die Antwort auf das 'Warum', was er meinte. Es warf eigentlich nur noch mehr Fragen auf. Er verstand es nicht. Nichts davon. Warum gab Tony sich solche Mühe wegen ihm?

„Ich muss los. Wir sehen uns heute Abend." Tony hob die Hand zum Gruß und ging. Vielleicht hörte er das leise 'Danke' noch, aber wenn, dann zeigte er es nicht.

Falling AwayWhere stories live. Discover now