Kapitel 12

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Das Unwetter hielt an. Die Uhr behauptete, dass es früher Vormittag war. Wenn Tony einen Blick aus den großen Fenstern warf, sah er nichts als graue Wolken und Nebel über der Skyline von New York. Der Regen prasselte inzwischen sanfter gegen die Glasscheiben und wenn er die Balkontür öffnen würde, könnte er sicher den Wind pfeifen hören. Es war der perfekte Tag, um im Bett zu bleiben.

Es machte Tony Sorgen, wie gerne er genau das tun würde.

Aufzuwachen, mit einem warmen Körper an seiner Seite ... er hatte fast vergessen, wie sich das anfühlte. Er hatte nicht lange geschlafen, aber dafür relativ gut. Traumfrei. Ob das wirklich an Barnes lag, den Tabletten oder dem Scotch, konnte er nicht sagen. Vielleicht war es auch die Mischung. So oder so, Tony war dankbar für jede Minute Ruhe, die sein Körper bekam.

Sein erster Gedanke war es gewesen aufzustehen, sich intravenös eine Tonne Kaffee zu gönnen und sich in seiner Werkstatt einzusperren. Heute war keiner dieser Tage, wo er für Gesellschaft gemacht war. Er hatte sogar überlegt, jedes Kommunikationsgerät auszuschalten und JARVIS explizite Anweisungen zu geben, niemanden in seine Nähe zu lassen.

Dann hatte Barnes ein Seufzen von sich gegeben – so leise und sanft. In der Stille des Raumes hatte es sich gewaltig angefühlt. Tony war nicht sicher, ob irgendjemand in diesem Zimmer jemals so zufrieden angehört hatte.

Also stand er nicht auf. Er drehte sich vorsichtig auf die Seite, bettete den Kopf auf seinem eigenen Arm und beobachtete Barnes einfach nur – und ja, es war ihm egal, dass er sich jetzt wie ein Stalker benahm. Barnes hatte die Decke im Laufe der Nacht bis zu den Schultern hochgezogen. Die dunklen Strähnen waren fächerartig auf dem Kissen ausgebreitet und bildeten einen interessanten Kontrast zu dem hellen Stoff. Ein paar der Strähnen fielen ihm wie immer ins Gesicht, das er zum Teil im Kissen vergraben hatte. Tony sah trotzdem genug, um nicht zum ersten Mal festzustellen, was für einen hübscher Mann er vor sich hatte. Er kannte die Bilder von früher, hatte Barnes in Uniform und auch in Kampfmontur an Steves Seite gesehen. Er kannte die Bilder, die sein Vater aufgehoben hatte. Bei ihnen hatte Tony denselben Gedanken. Er war nur der Meinung, dass Barnes die langen Haare und der Bart besser standen. Es wirkte so viel ehrlicher als herausgeputzte Soldaten. Der Krieg war nicht schön oder hübsch. Er war brutal und rau.

Selbst im Schlaf wich die Spannung nicht ganz aus Barnes' Körper. Es war dennoch ein gewaltiger Unterschied zu sonst. Normalerweise wirkte er wie ein angespannter Bogen, jederzeit zum Angriff bereit. Jetzt war alles an ihm ... weicher. Seine Brust hob und senkte sich leicht zum Takt der gleichmäßigen Atmung. Atmen war manchmal die am schwersten zu bewältigende Aufgabe. In jeder Panikattacke vergaß Tony einfach, wie das funktionierte, und er fühlte sich so betrogen von seinem Körper. Wie konnte ein natürlicher Reflex zu seinem Feind werden?

Nach einer Weile passte er sich Barnes' Atmung an und konzentrierte sich auf nichts anderes.

Ein.

Aus.

Ein ...

... und wieder aus.

Konnte es nicht immer so einfach sein?

Tony seufzte nahezu lautlos. Nach einem Moment zog er seinen anderen Arm unter der Decke hervor und streckte die Hand aus. Vorsichtig strich er Barnes zwei Strähnen aus der Stirn und lächelte leicht. Sie fühlten sich so weich an, wie er sich das vorgestellt hatte. Tony redete sich ein, das nur zu machen, um einen besseren Blick auf dieses hübsche Gesicht zu bekommen. Jetzt war es ihm nur unmöglich, sich wieder zurückzuziehen. Seine Finger geisterten über Barnes' Wange, ächzten förmlich danach die Linie zu berühren, wo die weiche Haut zu den rauen Bartstoppeln wechselte.

Er war kurz davor, als Finger sich schraubstockartig um sein Handgelenk legten. Tony spürte genau denselben Schmerz wie letzte Mal, der ihn scharf die Luft einsaugen ließ. Diesmal konnte er sich nur nicht dazu bringen, sich auch nur einen Inch zu rühren. Barnes sah ihn an, halb verschlafen und doch mit so verdammt klaren Augen, dass Tony förmlich erstarrte. Es störte ihn nicht einmal ertappt worden zu sein. Aber dieser intensive Blick ...

Ein paar Herzschläge passierte gar nichts. Dann lockerte Barnes seinen Griff gänzlich, strich in einer entschuldigenden Geste über sein Handgelenk, direkt über seinen Puls. Tony fragte sich, ob Barnes spürte, wie dieser sich gerade ziemlich beschleunigte. Tony zumindest bildete sich ein, das Blut in seinen Ohren rauschen zu hören.

Barnes fragte ihn nicht, was er hier machte oder was das sollte, wie jeder normale Mensch das in so einem Fall tun würde. Stattdessen tat er etwas völlig anderes, was Tony fast den Rest gab: er führte Tonys Hand auf seine Wange, genau dort hin, wo er sie selbst haben wollte. Einen Moment verharrte Barnes so, wirkte fast schon unsicher. Erst als Tony langsam die Finger streckte und ihm über die Haut strich, entspannte er sich wieder. Er schloss die Augen und stieß dieses viel zu sanfte Seufzen aus, das Tony direkt unter die Haut kroch.

Barnes ließ ihn nicht los. Hauchzart und viel zu vorsichtig strich er erneut über sein Handgelenk, weiter seinen Arm hinab und hinterließ überall ein feines Kribbeln. Irgendwo kurz vorm Ellenbogen hielt er inne, ließ seine Hand warm und schwer genau dort liegen. Tony beschäftigte sich selbst damit, die Linie des Kiefers mit den Fingern nachzuzeichnen. Er schauderte bei dem Gefühl der rauen Stoppeln und gleich noch einmal, als Barnes sich der Berührung förmlich entgegenstreckte. In dem Moment wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass es Jahrzehnte her sein musste, dass jemand Körperkontakt zu ihm aufgebaut hatte, der nichts mit Kampf oder Experimenten zu tun hatte.

Es fiel Tony schwer, den Klumpen in seiner Kehle runterzuschlucken. Instinktiv rutschte er näher, bis seine Stirn an Barnes' lehnte und er den Atem des anderen Mannes in seinem Gesicht spürte. Für keine Sekunde hörte er auf ihn zu berühren. Tony sah seinen Fingern dabei zu, wie sie jede Kontur dieses hübschen Gesichts nachzeichneten. Er strich am Hals hinab, spürte den starken Puls der Schlagader und wanderte auf der anderen Seite wieder hinauf. Er legte zwei Finger unter Barnes' Kinn, um sein Gesicht ein Stück näher in seine Richtung zu neigen, und glitt mit dem Daumen die Linie der Unterlippe nach. Die Finger an seinem Arm zuckten kurz und als Barnes den Mund öffnete – nur ein winziges bisschen, aber oh Gott, es sah so einladend aus! – wollte Tony nichts anderes, als ihn küssen. Er wollte es so sehr!

Doch Barnes hatte die Augen immer noch geschlossen und wirkte so verdammt vertrauensselig, dass Tony sich einfach nicht dazu bringen konnte. Es fühlte sich irgendwie nicht richtig an.

Tony hasste es, vernünftig zu sein.

Er schmiegte seine Wange gegen Barnes' Schläfe und schloss jetzt selbst die Augen, erlaubte sich für eine Weile, die Wärme und Nähe einfach zu genießen. „Schlaf noch ein wenig", forderte er dann, schob die Hand in die weichen Haare und kraulte Barnes so harmlos es möglich war im Nacken. „Es ist noch früh."

Barnes gab ein Geräusch von sich, das alles oder nichts heißen konnte. So wie er sein Gesicht an Tonys Hals vergrub und einmal alles andere als unauffällig tief Luft holte, interpretierte er das mal ganz großzügig als Zustimmung.

Es dauerte nicht lange, bis Barnes' Atmung wieder ruhig wurde und er einschlief.

Es dauerte jedoch eine gute Stunde, bis Tony sich dazu durchringen konnte, aufzustehen und sich dabei nicht wie ein Trampeltier zu verhalten. Im Türrahmen drehte er sich noch einmal nach Barnes um, der ruhig weiter schlief, und erst dann schlich er sich in den Flur. Er konnte sich nur noch nicht entscheiden, ob er die kalte Dusche dringender brauchte oder den Kaffee.

Falling AwayWhere stories live. Discover now