04. August 2019

00:02Uhr 

"Être adulte, c'est être seul."
"Was?", fragt er.
"Erwachsen sein heißt, allein zu sein.", antworte ich und schließe meine Augen, "Französisch."
Er lacht leise neben mir. Sein Arm liegt in meinem Nacken und wärmt mich, während wir beide in den Garten meiner Eltern starren.
"Ich liebe es, wenn du Französisch sprichst.", murmelt er in meine Haare und kommt mir näher. Seine Wärme ist merkwürdig beruhigend und ich lege meinen Kopf auf seine Schulter und lache.
"Du verstehst ja kein Wort, wenn ich Französisch rede."
Er denkt nach. "Stimmt.", antwortet er langsam und ich merke, wie er mich aus dem Augenwinkel anstarrt, "Aber ich liebe es, wenn du redest."
Die Tür zur Terrasse wird aufgeschoben und wir beide drehen uns um. 
Meine Eltern kommen auf uns zu: Meine Mutter mit einem stolzen Grinsen auf dem Gesicht und mein Vater mit einem zufriedenen Lächeln und einem Arm um die Hüfte meiner Mutter.
Sie beide singen auf ihrem Weg ein Geburtstagslied. Aiden steht auf. 
"Einundzwanzig Jahre alt!", ruft meine Mutter und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. 
"Als nächstes zieht sie in ihre eigene Wohnung, mon amour.", fügt mein Vater hinzu. Sie schlägt ihm leicht auf die Schulter. Dann kommt sie auf mich zu und umarmt mich. 
"Happy Birthday, Eve.", murmelt sie in die Umarmung hinein und packt mich an den Schultern.
Sie schaut mir in die Augen und seufzt. "Seht nur, wie erwachsen sie geworden ist."
Auch mein Vater umarmt mich. Zusammen überreichen sie mir einen Umschlag.
"Sieh, wir wussten nicht, was wir dir schenken sollen. Also dachten wir, du entscheidest selbst.", erklärt meine Mutter, als ich den Umschlag öffne. Es sind mehrere Geldscheine. Ich nicke anerkennend und danke ihnen. 
Aiden greift nach meiner Hand und nickt meinen Eltern ebenfalls zu.
"Eve und ich haben noch eine Verabredung", sagt er mit seinem Grinsen und zieht mich hinter sich her. Ich wünschte, er würde sich einfach wieder mit mir auf die Bank setzen und in den Garten starren, aber trotzdem laufe ich ihm hinterher. 
Es war vorhersehbar, dass er meinen Geburtstag nicht so mit mir verbringen würde, wie ich es gehofft hatte: allein. Obwohl ich des öfteren darauf hingedeutet hatte, versucht er nun, wieder etwas besonderes aus dem zu machen, was ich eigentlich lieber vergessen wollte.
Ich bin ein Jahr älter - schon wieder. 
Mir kommt es so vor, als ob die Zeit an mir vorbei rennen würde, so schnell, dass mir währenddessen alle Luft aus den Lungen gedrückt wird und ich nicht mehr atmen kann.
Einundzwanzig Jahre alt bin ich jetzt - und für was?
Ich habe bisher nicht eines meiner Ziele erreichen können, jedenfalls nicht im erwünschten Ausmaß. Ich habe die Schule mit einem Schnitt von 2.1 abgeschlossen. Ich verbringe fast jeden Tag in einer Universität, in welcher ich am liebsten nicht sein würde.
Nicht, dass mir mein Studiengang nicht gefällt. Eigentlich liebe ich das, was ich dort lerne, aber ich bin so unbeschreiblich müde.
Die Entscheidung, ob ich lernen oder schlafen sollte, fällt mir manchmal schwer. 
Aiden weiß das, deshalb versucht er jetzt mit allen Mitteln, mich aus dieser Klemme herauszuholen.
Er führt mich zu seinem alten Auto und öffnet mir die Tür.
Wenn ich ihn ansehe, wird mir warm. Man kann seine Liebe fast spüren, wenn er einen nur anschaut. Er setzt sich neben mich und startet den Motor, während er mir ein Tuch reicht.
"Binde das um deine Augen."
Ich tue, was er sagt und lehne mich zurück. 
"Aiden?", frage ich leise und lehne meinen Kopf in seine Richtung. Erst antwortet er nicht, dann höre ich ein leises "Mh?" aus der Richtung, in welcher er sitzt. 
Ich denke einen Moment darüber nach, was ich sagen will. 
Sollte ich ihm jetzt erklären, dass ich eigentlich lieber nach Hause will? Ich will seine Gefühle nicht verletzen. Bestimmt hat er sich viel Mühe gegeben, aber damit könnten auch andere Menschen verbunden sein. Ich habe nicht sonderlich Lust darauf, mir von zehn weiteren Freunden das gleiche sagen zu lassen: Happy Birthday.
Vielleicht ist mein Birthday ja gar nicht so Happy.
Vielleicht möchte ich einfach nur schlafen gehen.
In Aidens Armen liegen, alles um mich herum vergessen. In den Garten starren.
Der Motor des Autos wird plötzlich abgestellt. 
Wir können nicht lange gefahren sein und trotzdem ergibt sich mir eine komplett andere Geräuschkulisse als noch vor wenigen Minuten in dem Garten meiner Eltern.
Das Rauschen von Blättern empfängt mich freundlich, entfernt zwitschern einige Vögel in die Nacht hinein.
Aiden greift überraschend nach meinem Ellenbogen und drückt mich mit Bedacht in eine mir unbekannte Richtung. Ich weiß, dass er lächelt.
Unter uns knacken Äste und vertrocknete Blätter. Sträucher streifen meine nackten Arme und bleiben hinter uns zurück, bis wir plötzlich Halt machen.
Aiden nimmt die Augenbinde aus meinem Gesicht und ermutigt mich, die Augen zu öffnen.
Vor uns liegt der See. In den Bäumen glitzern Lichterketten, welche sich im Wasser spiegeln und zugleich Licht auf eine dicke Decke werfen, die mit Kissen bedeckt ist. 
Mir stockt bei dem Anblick der Atem. Ich hätte mit allem gerechnet, aber nicht hiermit.
Von hinten legen sich Aidens Arme um mich.
"Happy Birthday, Eve.", flüstert er in mein Ohr und gibt mir einen Kuss auf die Wange.
Langsam greife ich nach seinen Armen und erwidere die Umarmung so gut wie möglich.
"Gefällt es dir?", fragt Aiden nun besorgt und legt sein Kinn auf meine Schulter.
Ich nicke. Ja. Die Szenerie ist atemberaubend - nie hätte ich mir so etwas vorgestellt.
Es kommt mir vor, als ob das Licht der Lichterketten auch in meinem Herz scheint.
Ich atme aus und ein und versuche, die richtigen Worte zu finden.
Dann, mit einem leichten Flüstern:
"Es ist perfekt."

E D E N [COMPLETE] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt