23. Dezember 2019
23:55Uhr
Meine Hände zittern nicht vor Kälte.
Ich habe Angst.
Bis vor ein paar Stunden hat es geschneit und der See ist zugefroren.
Wenn ich das Eis am Ufer aufgebrochen habe, gibt es kein Zurück mehr.
Aber gab es das jemals?
Ich will tief durchatmen, aber die kalte Luft brennt in meiner Kehle und in meiner Lunge.
Mit langsamen Bewegungen öffne ich die Knöpfe meines Mantels und streife ihn von meinen Armen. Sofort ummantelt die beißende Kälte mich und ich beginne, noch mehr zu zittern.
Meine Kehle ist zugeschnürt und ich möchte weinen und schreien, aber kein Ton geht über meine Lippen. Keine Träne verlässt meine Augen.
Egal, wie sehr ich es versuchte, meine Emotionen sind verschlossen in einer Truhe ohne Schloss und ich kann sie nicht öffnen.
Gott, ich habe es versucht. Mit all meiner Kraft, bis ich realisiert habe, dass ich einfach zu schwach bin.
Ich nähere mich dem Ufer und schnüre meine Schuhe auf.
Ziehe sie aus, auch meine Socken.
Es dauert nur Sekunden, bis meine Fußsohlen taub sind. Fast so taub, wie mein Verstand.
Ich weiß, dass sie bestimmt schon nach mir suchen, also sollte ich mich beeilen, aber ich denke, dass ich diesen letzten Moment genießen sollte.
In ein paar Minuten bin ich frei - erlöst von meinem Schmerz und von dieser Blockade in meinem Kopf, die mich von meinem Leben fernhält.
Meine Lippen zittern nun auch und fast denke ich, dass ich vielleicht doch weinen werde, aber es passiert nichts.
Es beginnt wieder, zu schneien. Die weißen Flocken landen auf meinen nackten Armen, auf meinem Haar, auf dem Eis, das mich vom Wasser fernhält.
Ich gleite auf die Knie und beginne, mit der bloßen Faust das Eis aufzuschlagen.
Meine Haut reißt auf, Blut mischt sich mit Schnee und Eis, aber es funktioniert.
Das Eis bricht - kleine Schollen schlagen aneinander, als ich sie aus dem Weg schiebe.
Mit der blutigen Hand greife ich in die Tasche meiner Bluse. Ich umklammere das alte Polaroid Bild für einige Zeit, ziehe dann einen Zettel aus der Tasche und öffne ihn. Meine Schrift ist sauber und ordentlich. Ich muss den Zettel mit in den Tod nehmen, auch, wenn er danach nicht mehr lesbar ist. Ich fühle mich, als wäre es meine Pflicht. Meine letzten Worte müssen bei mir bleiben.
Ich kann nicht atmen. Meine Kehle ist zugeschnürt und ich bin nervös, aber ich bin mir sicher, dass es das richtige ist.
Ich setze den ersten Fuß in das eiskalte Wasser. Die Taubheit meiner Haut trifft auf die scharfe Kälte des Wassers. Es fühlt sich an, als ob Glasscherben in meine Haut gedrückt werden.
Dieser See birgt Erinnerungen.
Es ist unfair, dass ich genau hier sterben werde, aber es fühlt sich richtig an.
Aiden wird es verstehen.
Ich setze den zweiten Fuß ins Wasser.
Aiden und ich sind letztes Jahr in diesem See schwimmen gegangen. Ich glaube, es war im November. Es war viel zu kalt zum schwimmen und ich wäre fast ertrunken, weil ich ihn nicht finden konnte, aber danach haben wir zusammen in seinem alten Auto gesessen und Sterne angeschaut.
Ein weiterer Schritt in das eiskalte Wasser. Es reicht mir jetzt bis zu den Knien.
Noch vor wenigen Monaten hat er mich Nachts her gefahren, um meinen Geburtstag zu feiern. Er hat mir eine Kette mit einem Kreuzanhänger geschenkt. Ich fasse wie automatisch an meinen Hals und greife nach dem kalten Silber. Ich werde es mit mir nehmen.
Mein Weg bahnt sich in den tiefen Teil des Sees, langsam, aber mit Vorsicht.
Aiden und ich haben den See entdeckt, ein paar Wochen, nachdem wir zusammengekommen sind. Niemand außer uns ist jemals hier.
Einmal haben wir ein altes Boot gefunden und sind damit raus gerudert, aber es hatte ein Loch.
Wir haben beide unsere Handys verloren, als wir zurück zum Ufer geschwommen sind.
Aber ich habe ein Foto von dem Moment, in dem Aiden ins Wasser fiel.
Er hat mir an diesem Tag eine Polaroid Kamera geschenkt.
Ein Lächeln spielt auf meinen Lippen - ein leichtes Lachen.Ich stehe nun bis zu meinen Rippen im Wasser. Meine Kleidung ist schwer und ein weiterer Schritt wird genügen, um in die Tiefen des Sees gezogen zu werden.
Ich hoffe, sie finden mich, bevor ich beginne, zu verwesen.
Plötzlich läuft mir eine Träne über die Wange.
Unerwartet taucht sie auf und, als wäre sie nie dagewesen, tropft sie in das kalte Wasser, welches mich umgibt.
Ich drehe mich zum Ufer und atme tief ein.
Dann mache ich den letzten Schritt, nun rückwärts, und lasse mich mit meinem ganzen Körper in die Kälte hinunterziehen.Ich sehe das Mondlicht, welches durch die Wasseroberfläche bricht und auf mich herunter scheint.
Es beruhigt mich, während ich immer tiefer sinke. Alles ist friedlich.
Um mich herum wird es dunkler und dunkler - meine Haare schweben um mich herum wie Geister. Das Wasser fährt über meine Haut wie Sandpapier.
Alles tut weh, aber dieses Mal werde ich nicht auftauchen. Nicht wie letztes Jahr.
Aiden ist nicht hier, um mir zu helfen.
Niemand wird mir helfen und das ist gut so.
Das Einzige, was mir helfen wird, ist die Ruhe und der Frieden, der auf den Schmerz folgt.
Dafür werde ich diesen aushalten.
Meine Luft wird knapp - ich habe das Verlangen, nach Luft zu schnappen, aber meine Instinkte verbieten es mir.
Ich glaube, zu sehen, wie sich an der Oberfläche eine neue Eisschicht bildet, dann Schatten-- der Tod beugt sich über mich.
Mein Körper ist taub und ich fühle nichts mehr.
Mein Kopf droht, zu explodieren und meine Lungen brennen mit den Feuern der Hölle, aber ich bleibe ruhig,
Schließe meine Augen, während das Licht des Mondes schwächer und schwächer auf mich scheint.
Zwei Hände greifen nach mir.
Das ist es - so fühlt es sich an, zu sterben.
Ich kann meine Augen nicht mehr offen halten: Müde gleiten meine Glieder durch das Wasser.
Ich öffne meinen Mund, schaue ein letztes Mal dem Mond entgegen, denke, er will mir etwas sagen.
"Alles wird gut" strahlt die Umgebung aus und ich schließe erneut die Augen, denke, dass unsichtbare Tränen sich mit dem Wasser des Sees mischen, bevor ich einen letzten Atemzug nehme und endlich in die Tiefen jeglicher Existenz hinabtreibe.
Mein letzter Gedanke gilt Aiden.
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E D E N [COMPLETE]
Short StoryEs ist schwer, die richtigen Worte zu finden, wenn man sterben will.