12. März 2017
15:14Uhr
"Kein Mann soll das Wissen von der Stunde oder dem Tag haben", sagt er.
Aiden sitzt auf einem dreckigen Sofa nahe dem Fluss.
Über ihm erstreckt sich die Brücke, die vom ländlichen Teil der Stadt in die tatsächliche, beschäftigte Stadt führt. Ihr Schatten liegt auf Aiden und dem Sofa.
Dass das Sofa dreckig ist, scheint ihn allerdings nicht zu interessieren.
"Wo hast du diese Weisheit denn aufgetrieben?", frage ich und nähere mich dem Sofa mit einem Grinsen. Meine Schuhe schleifen dumpf über die kalte und harte Erde.
Aiden schaut mit gerunzelter Stirn auf das langsam fließende Wasser.
Er beginnt ebenfalls, zu grinsen und das Runzeln verschwindet.
"Aus der Bibel", antwortet er dann und schaut mich stolz an, als hätte er gerade einen Preis gewonnen. Ich kann mir nicht helfen:
Mit einem breiten Lächeln beobachte ich ihn dabei, wie er auf dem Sofakissen hin und herrutscht und es sich gemütlicher macht.
"Wirklich?", frage ich und verkneife mir ein Lachen, "Ich dachte, du bist Atheist."
Plötzlich macht Aiden Platz auf dem Sofa und klopft auf den leeren Platz neben sich.
Ich setze mich. Überraschender Weise legt er einen Arm um meine Schultern.
Seine Wärme überträgt sich auf mich und lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen.
Abwechselnd verlassen kleine Rauchwolken unsere Münder.
Für März ist es überraschend kalt geblieben - Aiden schiebt das auf den Klimawandel.
Ich kann seine Aussage nicht leugnen.
Während er weiterhin den Fluss anschaut, sehe ich mir seinen Gesichtsausdruck an.
Aiden sieht immer so unfassbar konzentriert aus - gerade, als würde in seinem Kopf eine Maschine jede Sekunde neue Gedanken produzieren, die er verarbeiten und erläutern wollte.
Es ist faszinierend, ihm dabei zuzuschauen.
Manchmal erwische ich ihn in einem Moment, in welchem er so vertieft in Gedanken ist, dass er nicht einmal mitbekommen hätte, wenn um ihn herum ein Krieg ausgebrochen wäre.
Er öffnet plötzlich den Mund, ganz vorsichtig, als denke er in diesem Moment noch über die exakten Worte nach, die er im nächsten Moment verwenden wollte. Aiden ist ein sehr artikulierter Mensch.
"Das bin ich auch", erklärt er und bezieht sich auf die Frage, ob er Atheist sei. Ich hatte schon vergessen, dass ich diese Worte jemals ausgesprochen hatte, so sehr zieht er mich in seinen Bann.
"Ja, ich bin Atheist. Aber das heißt nicht, dass ich mich nicht über anderer Menschen Glauben informieren sollte. Es ist nur höflich, Wissen zu besitzen."
Seine Aussage macht mich sprachlos.
Aiden ist ein so intelligenter Mensch, so freundlich, in Gedanken versunken - es kommt mir fast so vor, als ob er nur ein Roboter wäre, der darauf eingestellt ist, interessant und nett zu sein, um viele Freunde zu machen.
Ich weiß, dass Aiden viel Alkohol trinkt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass auch er Gedanken hat, die er versucht, so zu vergessen, doch hauptsächlich trinkt er, weil er sorgenfrei sein möchte.
Wenn er Sorgen hat, runzelt er die Stirn. Er tut das oft.
Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich nicht die einzige bin, die in Anwesenheit des Anderen zum Leben erwacht.
Wenn ich mit Aiden zusammen bin, fühle ich mich lebendig, gar unsterblich, aber das würde ich ihm nie erzählen. Genauso, wie ich ihm nie erzählen würde, was in mir vorgeht, wenn er nicht da ist.
Ich schaue Aiden an, wie er auf das Wasser starrt, und denke darüber nach, was gerade in seinem Kopf vorgehen könnte.
Wie funktioniert sein Verstand wohl?
Aidens Gedanken und seine Persönlichkeit sind so einzigartig, so wunderbar.
Ich staune immer wieder über ihn.
"Ich liebe dich."
Die Worte fließen über meine Lippen wie das Wasser im Fluss: langsam, aber bestimmt - und definitiv ohne meine Intention. Oh nein.
Er wird nie wieder mit mir reden.
Aiden und ich sind Freunde; wir kennen uns durch die Schülervertretung in unserer Schule.
Er ist zwei Jahre älter als ich, er wird nie an mir interessiert sein, geschweige denn meine Gefühle erwidern oder akzeptieren. Es ist vorbei.
Jetzt wird er aufstehen, mich auslachen und gehen. Ich werde wieder alleine sein, mit meinen Gedanken, in dieser unausstehlichen Dunkelheit.
Doch Aiden schaut mich nur lange an und denkt nach. Er nickt kurz und denkt weiter.
Dann dreht er sich zu mir um und schenkt mir seine ganze Aufmerksamkeit.
Er antwortet mir nicht mit Worten, sondern lehnt sich nur langsam zu mir herunter und macht kurz vor meinem Gesicht halt - Ich schaue ihn an und sehe zum ersten Mal direkt in seine Augen.
Sie spiegeln seine Gefühle wieder - Ich glaube kurz, seine Unsicherheit zu sehen.
Dann schließt er die Lücke zwischen uns und presst seine Lippen vorsichtig auf meine.
Ich schließe reflexartig die Augen und atme langsam aus, während alle negativen Gedanken in mir sich in die dunkelsten Ecken meines Herzens zurückziehen, bis ich sie nicht mehr fühlen kann.
Aller Schmerz ist für kurze Zeit vergessen und wird durch das zarte Gefühl seiner Lippen auf meinen ersetzt. Er legt eine Hand an meine Wange und unterbricht den Kuss.
"Ich liebe dich auch.", antwortet er endlich.
Der Stein auf meinem Herzen bricht und bröselt, ehe er gänzlich von mir abfällt, als Aiden mich erneut küsst. Insgeheim glaube ich, dass er weiß, wie seine Nähe meinen Schmerz in den Hintergrund drängt, auch, wenn er nichts von meinen Gedanken weiß.
Endlich, denke ich.
Endlich fühle ich etwas.
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E D E N [COMPLETE]
Short StoryEs ist schwer, die richtigen Worte zu finden, wenn man sterben will.