Kapitel 1 | Rising Sun

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„Wir sollten die Setlist nochmal durchgehen", hörte ich irgendwo hinter mir.

„Wozu denn? Interessiert doch eh keinen", antwortete eine andere Stimme. Und dann wieder Stille. Ich ignorierte sie beide und blickte weiter in den Spiegel der kaum zehn Zentimeter vor meinem Gesicht hing.

„Viertelstunde", sagte die erste Stimme.

„Ich freu mich schon", meinte eine dritte Stimme, triefend vor Sarkasmus. Wieder ging ich nicht darauf ein, sondern betrachtete meine Nase. Schon so oft hatte ich mich in alle Richtungen gedreht und versucht herauszufinden, in welcher Position der kleine Buckel am wenigsten auffallen würde. Aber vergebens. Die Nacht, in der ein Bruch meine Nase so verunstaltet hatte, lag mittlerweile fast 15 Jahre zurück, aber es fühlte sich immer wieder so an, als hätte ich das erst gestern erlebt. Ich schüttelte die Gedanken daran beiseite und warf einen letzten Blick auf mein von Müdigkeit gekennzeichnetes Gesicht. Geschlafen hatte ich in der letzten Nacht nicht wirklich, aber daran durfte ich jetzt nicht denken. Ich drehte mich zu meinen drei Freunden und Bandkollegen um.

„Leute, lasst jetzt bloß nicht den Kopf hängen", versuchte ich, sie ein wenig aufzubauen.

Julian, dem die zweite Stimme gehört hatte, antwortete: „Ach du bist auch noch da?" Er sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. Er hatte Recht, ich war heute die meiste Zeit in meinen Gedanken versunken gewesen. Aber im Gegensatz zu den anderen versuchte ich immerhin, mich nicht vom Pessimismus, der meine Freunde in den letzten Wochen wie ein Schatten verfolgte, anstecken zu lassen. Normalerweise war ich immer die ruhige gewesen und Annika, der die dritte Stimme gehört hatte, hatte regelmäßig Optimismus und gute Laune verbreitet. Sie war einfach eine verrückte Person - sie trug pinke Haare und das ganze drum und dran. Aber selbst sie war in der letzten Zeit unglaublich ruhig und keiner von uns wusste so wirklich, was mit ihr los war.

„Verdammt, Leute! Nur weil das nicht so klappt, wie wir uns das vorgestellt hatten, müsst ihr nicht wochenlang Trübsal blasen", versuchte ich, mit ihnen zu reden.

„Finde ich ja auch...", mischte sich jetzt auch Leo ein, der vierte unserer Band.

„Sieh an, der Pessimismus in Person fängt an, an seinem Charakter zu arbeiten", meldete sich jetzt wieder Julian. Was mit dem nur heute los war.

„Mensch, jetzt hört bitte endlich auf, euch gegenseitig in den Rücken zu fallen. Wir haben das gemeinsam begonnen und wir ziehen das auch gemeinsam durch. So schnell wollten wir nicht aufgeben, erinnert ihr euch?", fing ich wieder an, aber diesmal lies keiner einen bissigen Kommentar los. Es gab einfach keine Antwort. Das war ja nicht mit anzusehen.

Jetzt stand Julian auf und ging aus dem kleinen Raum, in dem wir saßen.

Zweimal pro Woche spielten wir uns hier ein, bevor es auf die Bühne in dieser kleinen Bar ging. Naja, Bühne war das schwer zu nennen. Eine kleine Fläche, auf der wir den Gästen so richtig einheizen sollten. Das war am Anfang alles schön und gut gewesen. Wir hatten als Schülerband gestartet, damals, als wir alle noch für unser Abitur büffelten. Inzwischen waren wir Studenten an der LMU (Ludwigs-Maximilians-Universität in München) und unsere Band existierte immer noch. Aber in letzter Zeit sank unsere Freude an der Musik dramatisch. Wir spielten nun seit fünf Jahren in dieser Kneipe, mittwochs und samstags, jede Woche. Und es passierte nichts, es passierte einfach nichts. Natürlich war uns klar gewesen, dass wir nicht von null auf hundert eine Bilderbuchkarriere hinlegen würden, aber dass wir ein wenig mehr Chancen bekommen würden, als jedes Mal wieder in dieser dreckigen Bar zu spielen, hatten wir uns schon erhofft...doch die Chancen blieben aus, und damit sank auch die Laune meiner Freunde...

„Ihr könnt jetzt", sagte Janina, die diese Kneipe führte und gerade den Kopf zur Tür herein gesteckt hatte. Sie war bereits um die fünfzig, aber eine Person, die wir in den letzten Jahren lieb gewonnen haben. Ich nickte ihr zu, doch sie spürte wohl die schlechte Stimmung. Sie wusste über unsere Ambitionen bestens Bescheid und fand meistens ein paar aufbauende Worte dazu, doch die blieben heute aus. „Danke", fügte ich hinzu, als sie innehielt, und schließlich drehte sie sich um und schloss die Tür wieder.

Ich griff nach meiner E-Gitarre, ebenso wie Leo - Annikas Keyboard und Julians Schlagzeug waren bereits auf der...Abstellfläche, auf der wir auftreten durften, platziert. Julian fanden wir auf dem Gang. Er stieß sich lässig von der Wand ab und folgte uns. Die Musik kam hier eigentlich vom Band, aber eine halbe Stunde wurde jeden Abend live gespielt, von Bands, die sich dadurch vergeblich einen Aufstieg erhofften. Wie unsere.

„Und hier sind sie", hörten wir Janina uns ansagen wie jeden Abend, an dem wir diese Band waren..., „Rainfall!"

Wie immer folgten mir meine Freunde daraufhin auf die Bühne. Ich hoffte, die Setlist war klar, schließlich hatten wir sie nicht mehr durchgesprochen. Wir alle nahmen unsere Plätze ein und ich versuchte, mit so viel Begeisterung wie möglich, den wenigen Leuten die anwesend waren ein wenig Stimmung zu machen. Es war nahezu unmöglich, aber ich tat mein Bestes. Die fünf Songs, die wir in dieser Zeit die uns zur Verfügung stand, unterbrachten, waren bunt gemischt. Wir hatten auch schon einige Lieder selbst geschrieben, doch wir hatten die Erfahrung gemacht, dass Cover in der Regel besser ankamen.

Auf den letzten Song hatte ich mich besonders gefreut. Es war ein Cover meiner absoluten Lieblingsband, Sunrise Avenue. Der Song hieß Fairytale Gone Bad, und ich hatte mich von Anfang an in dieses Lied verliebt. Aber sobald ich die ersten Akkorde gespielt hatte, wäre mir alles andere lieber gewesen, als hier zu sitzen und einen Song von Sunrise Avenue zu covern. Kollaps, Herzinfarkt, Schwangerschaft. Na gut, Schwangerschaft vielleicht lieber nicht. Denn genau in diesem Augenblick betraten Sunrise Avenue eben diese schäbige Kneipe. Samu, Riku, Raul und Sami - sie waren alle da. Und hörten, wie wir ihren Song spielten. Natürlich hatten sie sofort aufgehorcht und sahen zu uns herüber. Sie alle tuschelten miteinander, nur Samu - mein Idol seit meiner Schulzeit schon - sah gebannt zu mir. Ich wollte einfach nur sterben. Wir waren nur eine kleine unbedeutende Band, niemals würden wir mit Stars wie Sunrise Avenue mithalten können. Ich merkte, dass auch meine Freunde gesehen hatten, wer soeben den Raum betretet hatte. Wir gaben alles, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass ich mich auf meine Stimme heute nicht verlassen konnte. Als wir die letzten Takte gespielt hatten, erwartete uns der übliche spärliche Applaus, der daran lag, dass immer weniger Gäste den Weg in diese Bar fanden. Doch vier der Gäste klatschen wie wild darauf los und das waren - die Jungs von Sunrise Avenue. Und das verwirrte mich. Es war ein billiges Cover von einem großen Hit...noch dazu von einer ehemaligen Schülerband.

Dass ich mit ihnen reden wollte - besonders mit Samu - stand fest. Aber wie sollte ich das anstellen?


You Can Never Be Ready (Samu Haber Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt