Die Akte 618

242 11 4
                                    

Irgendwann hatte ich es geschafft mich aufzuraffen, mich auf den Weg in die Krankenabteilung gemacht und hier saß ich nun.
Der Wartesaal war voll mit Häftlingen. Jeder wartete mehr oder weniger ruhig aufgerufen zu werden.
Aber das dauerte, wie ich nach mittlerweile drei Stunden feststellen konnte. Trotz der späten Abendstunde herrschte totales Chaos auf der Station.
Sie war wie ein kleines Krankenhaus aufgebaut. Vorne ein Tresen und daneben der überfüllte Warteraum, in den ich mich gequetscht hatte.
Es kamen immer noch neue Häftlinge mit schwereren Verletzungen als meine. Scheinbar dauerten die Kämpfe länger als mir anfangs bewusst war. Klar, dass die schneller behandelt werden müssen und Vorrang haben.
Trotzdem nach drei Stunden verlor ich langsam die Geduld.
Eigentlich war ich sowieso wegen etwas anderem gekommen. Ich brauchte die Krankenakte 618.
Bei der ganzen Warterei ärgerte ich mich, dass die Daten der Krankenabteilung noch nicht digitalisiert wurden, sodass ich mir einiges an Aufwand hätte sparen können. Ich wäre einfach in meiner sicheren Zelle gehockt, hätte ein paar Minuten auf die Tastatur gehauen und das Ergebnis am Ende bei der nächstbesten Gelegenheit irgendwo ausgedruckt. Im Notfall wäre das Abschreiben einer Akte sogar noch leichter als dieser ganze Scheiß hier.

Durch meinen länger andauernden Aufenthalt kannte ich mich mittlerweile bestens auf der Station aus. Es gab drei Wächter und zwei Krankenschwestern am Tresen.
Wenn ein schwerer Fall hereingeschoben wurde, kam noch Unterstützung von zwei weiteren Krankenschwestern.
Nach zwei weiteren Minuten hatte ich einen Entschluss gefasst.
Als der nächste Name durch den Warteraum schallte, stand ich auf und ging in Richtung der Behandlungsräume.
Es war einfacher als gedacht den richtigen Raum zu finden. Jedes Zimmer war ausgeschildert und die Räume waren nicht extra bewacht.
Es gab zwar Videoüberwachung, aber das war ein Kinderspiel sie im Nachhinein durch ein Standbild zu ersetzten. Natürlich nur solange bis ich mit der Akte 618 wieder sicher von der Station geflohen bin.

Da stand ich nun und starrte das Schild "Personenbezogene Daten" und direkt daneben "Vertraulich! Nur für Mitarbeiter" an. Schnell sah ich mich ein letztes Mal um bevor ich den Türgriff umfasste und herunterdrückte.
Leider blieb der Raum verschlossen. Das wäre aber auch wirklich zu einfach gewesen. Das hier ist immerhin ein Gefängnis. Hier kümmern sich die Leute nicht um ein Schild mit der Aufschrift "Vertraulich!".
Aber schon wenige Sekunden später wurden meine Erwartungen zu Nichte gemacht. Die Tür ließ sich wie im Film mit einer einfachen Haarnadel öffnen.
Den Direktor dieser Einrichtung kümmerte der Datenschutz ,- ob digital oder analog- von Häftlingen wohl gar nicht, hauptsache sie blieben wo sie waren.

Sobald ich das Zimmer betreten hatte, begann ich die Schränke zu durchsuchen. Die Akten in ihnen waren nach Nummern sortiert.
Schon bald hatte ich auch die Ziffern 618 erspäht. Schnell vertauschte ich die Akte mit einer anderen Nummer und steckte die 618 unter meinen Overall. So würde, falls jemand die fehlende Akte bemerkt, niemand mich oder den Gefängnisinsassen 618 verdächtigen. Stattdessen würden die Papiere von 459 fehlen, die sich nun in dem Umschlag von 618 befanden.
Vorsichtshalber hatte ich mir die Krankheiten des Patienten 459 durchgelesen, aber es waren keine schwerwiegenden Informationen wie Herzfehler, Allergien oder anderes dabei.
Ich musste ja nicht unbedingt für den Tod einer anderen Person verantwortlich sein, wenn sich das auch vermeiden lässt.

Plötzlich hörte ich Stimmen von draußen, die sich näherten. Schnell suchte ich ein Versteck, doch konnte kein Einziges in diesem kahlen Raum entdecken. Das Einzige was mir blieb war mich hinter die Tür zu stellen.
Ich spürte die Anspannung in mir steigen als die Türklinke langsam herunter gedrückt wurde. Die Stimmen waren jetzt lauter und ich konnte jedes Wort mithören:
"Ich komme sofort. Ich brauche nur schnell die Krankendaten von 231."
Eine andere Frauenstimme antwortete:
"Schon wieder 231? Man, die geht mir echt auf die Nerven und jedes Mal wenn sie hier ist, darf ich mir ihre Lebensgeschichte erneut anhören."
"Ohja" bestätigte die Erste "beim ersten Mal war es ja noch ganz amüsant, aber mittlerweil- "
Sie konnte ihren Satz nicht beenden, weil sie vollends den Raum betreten hatte und eine zusammengekauerte, blutverschmierte Frau hinter der Tür erblickte.
Die seltsame Gestalt mit lila Haaren wiegte sich vor und zurück als ob sie sich selber beruhigen müsste.
Als ich mir das aus der Sicht der Krankenschwester vorstellte, tat sie mir fast ein bisschen leid. Ich musste wirklich ein schreckliches Bild abgeben, so geschockt wie die Krankenschwester reagierte.

"Du armes Ding hast du dich verlaufen? Komm wir bringen dich zu einem Arzt, der deine Platzwunde näht. Siehst du meine Finger noch?"
Sie testete meinen peripheren Blick um eine Gehirnerschütterung auszuschließen.
Dann half sie mir auf und schob mich sanft in ein Zimmer mit Krankenbett.

Ein paar Minuten später erschien ein Arzt, der den Test wiederholte und zu dem Schluss kam, dass es nichts schlimmeres sei. Also durfte ich schon ein wenig später mit einem Pflaster an der Stirn die Station verlassen.
Die Krankenschwester hatte mir keine weiteren Fragen zu meinem unerlaubten Eindringen gefragt. Sie dachte wahrscheinlich, dass ich unter Schock stünde und den Raum aufgebrochen habe um Schutz und Ruhe zu suchen.
Ganz glaubwürdig fand ich mich selber nicht. Aber wahrscheinlich war ich in dem Chaos hier das kleinste Problem.

Zurück in meiner Zelle brauchte ich nicht einmal die Kamera Aufnahmen zu bearbeiten, da im Raum selbst keine aufgestellt waren und die Aufnahme in Flur mit der Theorie der Schwester stimmig ist.
Wie ich verzweifelt an der Tür ruckelte, um nicht erwischt zu werden, sah schon traurig aus.

Endlich unbeobachtet zog ich die Papiere unter meinem Overall hervor. Gespannt öffnete ich den Umschlag, auch wenn auf dem Zettel klar gestanden hatte, dass ich die Akte nicht lesen dürfte.
Leider war ich dazu aber einfach viel zu neugierig und als ich den Namen zur Nummer 618 las, stieg die Wut in mir hoch.

Schlagartig sprang ich auf und ging wutschnaubend auf den Flur, nur um gleich danach in die Zelle meines linken Nachbarns abzubiegen.
"Das hast du nicht gewagt!" sagte ich und funkelte  den leicht verdutzt aussehenden Hades an.
"Der ganze Aufwand nur um mich zu verarschen?"
Hades antwortete leicht belustigt im russischen Akzent:
"Hat doch geklappt und ich hatte meinen Spaß. Könnte ich jetzt bitte meine Akte haben, дурак (Durak)? Du hast mich die ganze Nacht genervt. Was hätte ich tuen sollen?"
Beleidigt schmiss ich ihm die Akte vor die Füße:
"Damit hast du dir keinen Gefallen getan. Du wirst kein Auge mehr zu machen, solang ich deine Zellennachbarin bin!"
"Du kannst die ganze Nacht reden. Ich werde nicht zuhören" während er das sagte, zog er ein paar Ohrstöpsel aus seiner Tasche und wedelte mit ihnen vor meiner Nase herum.

Rasch schnappte ich sie mir und verschwand aus seinem Zimmer. Ich hörte nur noch wie er lachte und sagte, dass er sich sicherheitshalber einen Vorrat gekauft habe.

die Hackerin Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt