[Neun]

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Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgendeiner Absicht gut. Die ganze Natur überhaupt ist eigentlich nichts anderes, als ein Zusammenhang von Erscheinungen nach Regeln; und es gibt überall keine Regellosigkeit.

Immanuel Kant

Langsam färbte sich der Himmel in wunderschöne Farben. Der Tau auf den Pflanzen reflektierte leicht das Licht der aufgehenden Sonne und der leichte Nebel, der sich um die Welt vor uns legte, hieß den Tag willkommen. Wärmer aber, wurde es nicht. Ich fror immer noch wie blöd, jedoch war ich mir sicher, dass jede Sekunde meine Eltern auftauchen würden. Und dann wär alles vorbei, so dachte ich zumindest.
,,Wenn Du tot bist, wie kannst Du das dann berühren?", fragte ich und zeigte dabei auf den Gegenstand, den sie in der Hand hielt. Meine Hand zitterte leicht wegen der Kälte. Vermutlich auch, weil ich die Befürchtung hatte, dass sie mich angelogen hatte.
,,Sie gehörte mir, als ich noch...",  sie stockte kurz, ,,gelebt habe."  Ria sah so verträumt auf den Gegenstand, sodass ich vermutete, dass sie in Erinnerungen schwelgte. So richtig konnte ich nicht erkennen, was es war. Langsam kam sie mir näher, sodass ich erkannte, dass sie eine Kette in der Hand hielt.
,,Mein Vater war viel auf Reisen. Er brachte mir jedes Mal etwas mit."Ihre Lippen zogen sich zu einem kleinen Lächeln. ,,Als er wieder aufbrechen wollte, riet ich ihm, zu bleiben. Ich wollte so sehr, dass er auch nur einen Moment bei mir bleibt. Doch er sagte 'Nein. Es ist meine Arbeit.'... Ich hatte ein ungutes Gefühl, als er losfuhr." Tränen schimmerten in ihren Augen, das konnte ich sehen. Schnell wischte sie sich über die Augen. ,,Bei einem Überfall wurde er getötet. Er hatte immer etwas für mich - nur das letzte Mal nichts anderes als Kummer und Leid. Voller Trauer durchstöberte ich die Sachen von meinem Vater, während meine Mutter sich einen Geliebten suchte... Irgendwann fand ich eine Kiste. Es lag ein Brief darin, deran mich adressiert war. In dieser Kiste befand sich diese Kette. " Ria legte die Kette auf meine kalten Hände. Dabei glitten ihre Hände durch meine hindurch. Wieder fuhr mir ein kalter Schauer über den Rücken. Nun konnte ich besser erkennen, wie sie aussah. Es war eine Lederkette. Viel interessanter war jedoch der Anhänger. Es war ein Stein, in Form einer Raute. Ein Band war um den Stein gewickelt. Es passte irgendwie. ,,Der Brief erklärte mir, dass es nun offiziell mein Besitz war." Sie atmete tief ein und sagte:,,Nun ist es an der Zeit, an der ich sie Dir vermache." Meine Augen weiteten sich vor Überraschung.
,,Ist das Dein Ernst? Du willst sie ernsthaft mir schenken? Aber sie gehört doch Dir!Es ist das letzte Erinnerungsstück an Deinen Vater..."
,,Dessen bin ich mir bewusst. Jetzt ist sie Dein", antwortete sie nur.
,,Warum?" Diese Frage stellte ich mir - es war die einzige, die ich hatte. Ich fragte mich nicht, wie spät es war und wann ich wieder von dort weg konnte, Nein. Ein einfaches Warum, Das war meine Frage. Unteranderem: 'Warum erzählt sie mir das alles', 'Warum will sie sie mir schenken? Schließlich kennt sie mich nicht' und 'Warum ist sie tot', das waren die Fragen, die sich so penetrant in mein Gehirn gespeist hatten.
,,Warum was? Warum ich sie Dir vermache?"
,,Alles. Warum tust Du das alles?" Sie lächelte. Jedoch war es weder ein fröhliches, noch ein trauriges Lächeln. Ich konnte es einfach nicht enziffern.
,,Du wirst sehen", das hatte sie geantwortet. Mehr nicht. Ich war total verwirrt, doch ich dachte, es würde sich vielleicht noch klären. Jedoch erklärte sie mir nichts weiter, also bleib ich weiterhin unwissend.
,,Erzählst Du mir wenigstens, wie Du gestorben bist? Schließlich stirbt man nicht einfach so... so jung."
Sie lachte mokant auf. Zuerst dachte ich, es war an mich gerichtet. Doch als sie anfing zu sprechen, wurde mir klar, dass es ganz und gar nicht an mich gerichtet war.
,,Weißt Du, einesTages habe ich etwas unaussprechliches gegenüber dem Geliebten meiner Mutter gesagt. Ohne Mutter zu fragen, hat er mich verstoßen. Dann bin ich hier gelandet und eingesunken. Und... Naja...Gestorben."
,,Erstickt?", fragte ich schockiert.
,,Ja", antwortete sie monoton. Durch Frau Bohlters Unterricht wusste ich, dass man sich irgendwann nicht mehr selbst aus dem Moor retten konnte. Ja, ich habe aufgepasst. Ausnahmsweise.
Sie schien es nicht weiter ausführen zu wollen, also ließ ich es dabei.
Ich drehte die Kette in meinen Händen. Sie war schmutzig. Schnell steckte ich sie in meine Jackentasche und drückte den Knopf zu. Leise machte es Klick. Ich sah wieder zu Ria, in der Hoffnung, dass sie irgendetwas sagen würde. Irgendetwas. Doch es kam nichts von ihr.
Nach einer Weile der irgendwie bedrückenden Stille hörte ich Stimmen. Sie kamen mir bekannt vor. Sie riefen meinen Namen. Die Stimmen, sie klangen... verzweifelt. Ria sah - genauso wie ich - in die Richtung aus der die Stimmen kamen. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen; Sie waren gekommen. Sie waren tatsächlich gekommen.
In diesem Moment fühlte ich nichts als Glück. Ich war so unglaublich erleichtert. Und dann standen sie da, total angespannt. Sie drehten sich um und sahen mich. Augenblicklich hörten sie auf mich zu rufen. Ihre Körperhaltung änderte sich ein wenig. Schnell rannten sie auf mich zu. Alle beide. Ein paar mal sackten sie im Moor ein bisschen ein, doch das störte sie nicht. Als sie bei mir angekommen waren, schlossen sie mich in die Arme. ,,MeinBaby, mein Baby", sagte meine Mutter erleichtert und vergrub ihre Hände in meinen Haaren. Meine Augen hatte ich geschlossen. Es hätte mir peinlich sein können, ja - doch in diesem Moment war ich einfach total froh sie zu sehen. ,,Was machst du für Dinge...", hatte mein Vater gesagt, als auch er mich nun umarmte. Ihre Anspannung war ein wenig verschwunden.
Und, als ich meine Augen aufmachte, sah ich zwischen meinen beiden Eltern Ria stehen, die mich ansah. Sie lächelte, ob sie nun amüsiert oder glücklich war,konnte ich nur erahnen. Aber ganz ehrlich: Es interessierte mich auch nicht wirklich. Ich wusste, ich konnte nach Hause - das war das wichtigste für mich. Was ich aber auch wusste, war, dass ich höchstwahrscheinlich nie wieder kommen würde. Das schien Ria auchzu wissen, denn sie sah so aus, als hätte sie versucht, sich diese Situation einzuprägen. Da fiel mir wieder ein, dass sie mich gefragt hatte, ob ich ihr glaubte. Als ich daran dachte, griff ich an meineJackentasche. Einfach um zu spüren, ob es real war. Einfach um zuspüren, dass es nicht eingebildet war. Nun hatte ich meine Entscheidung getroffen: Ich glaubte ihr. Mehr als alles andere.
,,Ich glaube Dir", flüsterte ich ihr zu.

Natürlich hatten das meine Mutter und mein Vater gehört und mich gefragt, was ich meinte, doch ich hatte sie ignoriert und stattdessen in Rias Augen gesehen. In ihnen spiegelte sich Freude, das konnte ich sehen.
Langsam wurden ihre schwarzen Haare, ihre Augen, ja sogar ihre Haut blasser. Ich wusste nicht, was ich Fühlen oder Denken sollte. Schließlich schien es so, als würde sie verschwinden. Einfach so,vor meinen Augen. Und ich begriff nicht, warum.
,,Danke", sagte sie und lächelte. Es war ein ehrliches Lächeln. Ein Windzug ließ sie komplett verschwinden. Sie war weg, einfach weg. Ich konnte es nicht fassen... Die Luft, sie schien so... anders. Nun schien es,als wäre sie nie dagewesen; Als hätten wir nie miteinander geredet; Als hätte Ria nie existiert... Lange stand ich noch da und sah anden Ort, wo Ria zuvor stand, doch irgendwann musste ich meinen Blick abwenden und mit meinen Eltern zum Auto gehen.

Die Sonne stand nun immer höher am Himmel. Und als ich im Auto saß und die Tür schloss, wurde mir warm. Da fiel mir dann auf, wie unfassbar müde ich war. Und Hunger hatte ich auch. Ich schlief während der Fahrt ein und wachte nur auf, um in mein Zimmer zu gehen. Ansonsten wachte ich vor dem nächsten Morgen nicht mehr auf.

 Ansonsten wachte ich vor dem nächsten Morgen nicht mehr auf

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Das MoormädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt