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Ich rieb mir meine müden Augen, die jede Sekunde drohten, zuzufallen. Ich musste wach bleiben. Ich. musste. wach. ble.. Mein Kopf sank auf das Buch, das vor mir lag. Als meine Wange die kalte Seite berührte, schreckte ich hoch. Verdammt, ich musste wach bleiben.

Mein Blick wurde immer verschwommener, so sehr strengte mich die winzige Schrift im Zwielicht der kleinen Kerze, die spärlich meinen Schreibtisch beleuchtete, an. Patrick und ich arbeiteten seit Tagen dicke Wälzer durch, die ich in den Tiefen der Festung gefunden hatte und die auch nur ansatzweise etwas mit Medizin zu tun hatten. Einerseits suchten wir nach dem Heilmittel der roten Beere, mit der Micha sich vergiftet hatte und andererseits nach etwas, was die erschreckenden Krankheitsfälle in Kukoa erklären konnte. Die ärmliche Stadt wurde von einer der heftigsten Epidemien der Geschichte getroffen. Sie nannten es den "schwarzen Tod". Noch konnte ich keine kleine, rote, hochgiftige Beere finden, die sich Nirhalwana nannte und jedem, der sie verzehrt, unweigerliche den Tod brachte, in einer der alten Schriften finden. Außer man wusste von einem Gegengift. Patrick war sich mehr als nur sicher, dass es eines gab. Das war die Hoffnung, an die ich mich klammerte, die das Einzige war, das mich vom Verzweifeln abhielt.

Für den Sommerprinzen hatte nur ein Blick genügt, um sagen zu können, dass es sich um diese berühmt berüchtigte Beere handelte, die dem Volk des Sommers vom Winter als Strafe geschaffen wurde. Normalerweise wäre es mir egal gewesen und ich hätte vermutlich einen gewissen Stolz auf die Fähigkeiten meines Volkes gehabt, doch jetzt, in meiner Situation hasste ich alles dafür, dass es so kommen musste. Ich fühlte mich sogar schuldig, dass ein Teil des Blutes eben dieses Königs durch meine Adern fließt. Es war wundersam, wie nur wenige Wochen einen Menschen verändern konnten.

Ich würde so gerne auch so stark sein wie der Königdamals, aber ich würde meine Kräfte nutzen, um ein Gegenmittel zu erschaffen. Dann würde Michael gesund werden und die Welt wieder schön.

Melody und Maurice waren mehr oder minder überrascht gewesen, als sie den Sommerprinzen sahen. Es war Krieg, der Frühling löschte die Bevölkerung des Winters aus, die Königreiche mussten sich ihrer Meinung nach so oder so zusammenschließen.

Ich hielt das für keine gute Idee. Wie sollten wir die Vorurteile und Abneigung, die wir seit Jahrhunderten pflegten, diese Distanz und unterschwellige Feindseligkeit überwinden und uns gegen einen so mächtigen Gegner stellen. Würden wir siegen? Wahrscheinlich nicht. Der Frühling war einfach zu stark. Sie hatten Technologien, von denen wir nicht einmal zu träumen wagten und die Macht über Heilung, Krankheit und Tod. So drückten es zumindest die zwei Flüchtlinge aus. Was würde passieren, wenn wir verloren? Wie würden sie herrschen? Würde es uns besser gehen, wenn wir uns einfach einnehmen ließen?

Nein, ermahnte ich mich selbst. Wir brauchen diese Grenzen, es darf nicht alles einem gehören. Wir waren vier Völker. Wir hatten unterschiedliche Ideale, unterschiedliches Aussehen und unterschiedliche Strukturen. Das durften wir nicht mischen! Um keinen Preis dürfen die Völker aufeinandertreffen. Diese Distanz hatte einen Sinn, die musste aufrechterhalten bleiben! 


Ich rieb mir wieder meine Augen. Ich war so unendlich müde. In den letzten Tagen hatte ich viel zu wenig geschlafen, meistens war ich über der winzigen Schrift und den gehobenen, schwer verständlichen Worten eingeschlafen. Mein Rücken schmerzte und meine Augen brannten wie Feuer. Ich musste mich ausruhen, ermahnte ich mich. So konnte keiner mit mir etwas anfangen.

Ich pustete die Kerze aus und tastete mich im Halbdunkeln zu meinem Bett. Von Draußen schien der fast volle Mond in mein Zimmer. Ich starrte ihn an.

Unruhig drehte ich mich von der einen zur anderen Seite. Trotz meiner Müdigkeit konnte ich nicht schlafen, meine Gedanken wollten keine Ruhe geben. Ich versuchte es noch eine Weile, doch ich konnte kaum die Augen schließen, zu laut explodierte dann die Flut an Eindrücken, die ich machte, wenn ich die Sachbücher überflog.

Die verschiedenen Gifte der Natur, wie sie wirkten. Ich schauderte vor den Illustrationen, die fein säuberlich mit dünnen Tuschestrichen gezeichnet worden waren. Gänsehaut überzog meine Haut, auf einmal war mir heiß. So würde ich nicht schlafen können.


Resigniert stand ich auf, nahm mit etwas dünnen Holzfasern etwas Feuer von der fast erloschenen Kaminstelle, die kaum Licht spendete. Ich zündete die Kerze wieder an und blätterte die Seite um. Mit irgendwas musste ich mich ablenken. Vielleicht würde ich wieder hier einschlafen und mich in fiebrige träume stürzen.

"Das Gift des Pilzes wirkt schnell,..." ich übersprang den Absatz.

"Die nachgewiesene Wirkung der Wurzeln der Schellbeere..." ich seufzte und blätterte um.

"Man nehme für die vollkommene Entfaltung der Heilkraft nur noch einen Tropfen des Speichels der Person, die die zum sterben verurteile am meisten liebt. So wird der Fluch des Hasses des alten, kalten Königs gebrochen und der Patient wird von seinen Leiden in wenigen Tagen befreit." Mir wurde schlagartig noch heißer. Kalter König? Hass? War das wirklich? Vor Aufregung brannte mein Gesicht, die Müdigkeit war vergessen.

Ich blätterte noch einmal zurück. "Heilung des Giftes aus der Nirwalana bei leichtem, mittlerem und sehr starkem Krankheitsfortschritt."

Vor Freude sprang ich auf, schnappte mir das Buch und stürmte wie ein Wirbelsturm die schmale Wendeltreppe hinunter, fast wäre ich gestürzt, doch das wäre mir so egal gewesen.

Ich riss ohne zu klopfen Patricks Zimmertür auf, sah ihn von seinem Schreibtisch aufstehen, sah seine müden, aber wunderschönen Augen, seine perfekten Gesichtszüge, sein sich anbahnendes Lächeln bei meinem Anblick, und ließ mich in seine Arme fallen, die er überfordert, aber bereitwillig anhob, umarmte ihn fest und schluchzte vor Freude und Erleichterung in seine Halsbeuge.

[921 Wörter]

Der Fortschritt (Grenzen II) [Feedomsquad]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt