Chapter 1

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Panisch hastete ich durch das mittlerweile leere Treppenhaus des Hotels. Immer weiter nach oben. Meine von Tränen verschleierte Sicht ließ nicht zu das ich die Treppenansätzte fokussieren konnte, sodass ich mehrere Male stolperte und mir die Knie schmerzhaft an den Kanten aufschlug. Doch es interessierte mich nicht.

Mein Atmen ging rasselnd und meine Muskeln protestierten mit einem unangenehmen Ziehen. Doch auch dieses bekam von mir keine Beachtung geschenkt. Alles was zählte war mein Ziel. Das Hoteldach.
Das Quietschen meiner abgewetzten Converse hallte laut durch das Treppenhaus und verpasste mir eine Gänsehaut.

Ich musste hier weg. Nach etlichen Minuten erreichte ich endlich schweratmend das Dach. Kühle Nachtluft umschlang meinen Körper und das Brummen der Autos von den Straßen, 100 Meter weiter unter mir hallte nach oben. Der Wind strich mir sanft durch mein Pechschwarzen Haar und zerrte leicht an meiner dünnen Strickjacke.

Warme Tränen flossen meinen geröteten Wangen hinab und benetzten meine bebende Unterlippe.

Ich fühlte mich zertrümmert. Ausgenutzt. Beschädigt. Ich fühlte mich wie eine jämmerliche Fehlproduktion.
Ich war ein Unfall. Ich sollte gar nicht erst leben.

Dies sind die Worte die man mir schon mein Leben lang rücksichtslos ins Gesicht schmetterte. Man verlangte nur Perfektion von mir. Und egal wie sehr ich mich auch bemühte, niemals wurden meine Fortschritte gesehen. Nein, stattdessen fand man nur noch mehr Fehler und Mackel an mir.

Nie war man zufrieden mit mir. Und so kam es das ich mir schließlich eine neue Frage stellte.
Wenn ich sowiso ein Unfall war und es nicht wert war ein Leben, leben zu dürfen, wiso gab es mich dann noch?
Wenn ich sowiso nie etwas richtig machte, und nur eine Last für meine Familie war?

Diese eine Frage brachte mich in den jetzigen Moment. Mir weichen Knien Zwang ich mich dazu, mich dem Dachrand zu nähern. Jeder Schritt forderte unheimlichen Mut und Willen.
Willen dazu meinem Leben einen Endpunkt zu setzten. Willen dazu meinen Eltern den einen Wunsch zu erfüllen. Den Wunsch mich nicht mehr bei sich haben zu müssen.

Fest um schlossen meine zitternden Finger die kalte Metallstange des Geländers.

Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst vor der Zukunft.
In wenigen Minuten würde ich nicht mehr unter den Lebenden verweilen. Würden meine Eltern trauern? Würde man mich vermissen?

Hastig schob ich meine Fragen in die düsterste Ecke meines Kopfes. Mein Fokus legte sich auf den Verkehr. Dort unten sollte in naher Zukunft ein Körper eines Mädchen auf dem Asphalt aufschlagen.

Der Körper eines gebrochenen Mädchens, eines Mädchens welches sein Leben lang nichts als Schmerz erfahren hat.

Ein verzweifeltes Wimmern drang aus meinem fest zusammengepressten Mund.

"Mom, Dad ich liebe euch"

Mit diesen Worten kratzte ich meinen letzten Mut zusammen und schwang mein erstes Bein über das Geländer. Eine stärkere Windböhe riss an meinen Klamotten und ließ mich laut aufatmen.

Plötzlich umschloss mich eine unglaubliche Ruhe. Weshalb hatte ich Angst vor den Sturz? Er wäre meine Erlösung. Die Erlösung auf welche ich schon Jahre lang wartete.
Gefasst stellte ich meine Beine auf den dünnen Vorsprung hinter dem Geländer.

Meine Hände welche noch immer das Metall umschlagen lockeren sich ein wenig. Ein letztes Mal blickte ich nach unten. Gleich könnte ich dem Schmerz ein Ende setzten.

Wie von selber schlossen sich meine Lieder langsam. Das Bild meiner Eltern erschien vor meinem Innerem Auge.

Wie auf einem Kurzfilm schienen sich die wichtigsten Momente meines Lebens vor mir abzuspielen. Die wenigen Schönen und die Grausamen.

Das war der Moment indem ich mein letzter Zweifel verschwand. Des letzte Mal atmete ich tief ein, bevor ich meinen Griff entgültig aufgab.
Der freie Fall umschlang mich und gab mir das Gefühl zu fliegen. Für einen Moment fühlte ich mich...... glücklich.

Doch dieses Gefühl verließ mich genauso schnell wie es gekommen war, als sich eine warme Hand um mein Handgelenk schlang. Überrascht riss ich meine Augen auf. Meine Beine baumelten in der Luft über dem abendlichen Verkehr.
Doch ich fiel nicht.

Langsam hob ich meinen Blick an und schaute genau auf ein Paar Mitternachtblaue Augen. Ein Junge hatte mein Handgelenk umschlungen und hielt mich von dem Sturz ab. Auf seinem Gesicht zeichnete sich unverkennbarer Schock ab, doch er fasste sich schnell und zog mich mit einem starkem Ruck nach oben, über das Geländer.

Erst jetzt begann mein Gehirn zu realisieren was hier eigentlich gerade passierte. Augenblicklich baute sich ein unglaublicher Druck auf meiner linken Brust auf. Jetzt genau in diesem Moment könnte ich bereits tot sein. Ich wäre diesen grausamen Druck los.

Nein, nein, nein. Das durfte nicht wahr sein. Panisch begann ich mich in dem Griff des Fremden zu wenden. Ich schrie und brüllte. Doch er ließ nicht los. Im Gegenteil sein Griff verfestigte sich nur noch um ein Vielfaches.

Erst als er mich entgültig über das Geländer gezogen hatte und ich auf dem rauen Boden aufkam, verließ mich die Wärme Quelle an meinem Handgelenk.

Hastig rappelte ich mich auf und
wollte wieder über das Geländer klettern, doch wurde erneut von zwei Armen, die sich um meine Bauch Schlangen von meinem Vorhaben abgehalten. Ein heißer Atem prallte an meinem Nacken ab.

"Hey, hey, mach das nicht. Alles wird gut."
Die melanhonische Stimme unmittelbar hinter meinen Ohren ließ mich kurz inne halten.

Es waren nur 3 Worte. 3 Worte welche mir meinen gesamten Mut entrissen und meinen Wiederstand zerstörten.

Ein heiserer Schluchzen zeriss die Stille und meine Sicht verschwamm erneut.

Alles wird gut. Wie oft hatte ich mir diese Worte zugeflüstert. Jedes einzelne Mal. Jahrelang. Doch nie erfüllten sie sich. Solang, bis ich meinen letzten Hoffnungsfunken verlor.

Mein gesamter Körper begann zu beben und eine unglaubliche Kälte fraß sich durch mein Fleisch.

Nichts würde besser werden.
Mein Leben würde sich nie verändern.
Als könnte der Junge hinter mir Gedanken lesen, verfestigte sich sein Griff.
"Ich habe zwar keine Ahnung wer du bist oder was dich zu dem hier treibt, aber glaube mir wenn ich sage das es immer einen anderen Ausweg gibt"

Nun war es um mich geschehen und die letzte Kraft verließ meinen schlaffen Körper.
Weinend sank ich auf den kalten Boden und begann hemmungslos zu schluchzen.

Ich konnte das nicht mehr. Ich war zu schwach alleine weiter zu kämpfen und auf ein Happy End zu hoffen. Meine Psyhe hielt diesen Druck nicht mehr länger aus.

Die rauen Finger welche sich um mein Kinn schlangen rissen mich sanft aus meinen Gedanken und ließen mich auf blicken. Zwei besorgte Augen betrachteten mein Gesicht und schienen nach irgendwelchen Verletzungen zu suchen. Doch die würden sie nicht finden.

Hastig entriss ich mich dem Griff des Fremden. Was tat ich hier eigentlich? Ich ließ mich von einem Fremden berühren ohne auch nur seinen Namen zu wissen. Wie von einer Nadel gestochen, sprang ich auf und richtete mein zerknitteters Gewand.

"Ich sollte jetzt besser gehen."

Mit diesen Worten drehte ich mich um und lief. So schnell das ich beinahe über meine eigenen Beine stolperte. Die Rufe hinter mir ignorierte ich dabei volkommen.

Panisch, er könnte mir folgen riss ich die Tür zum Treppenhaus auf. Ohne mich noch einmal umzublicken, hastete ich die Stufen hinunter.

Silent GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt