4. Dez. - Kann es ein aufgeklärtes Zeitalter überhaupt geben?

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Kann es ein aufgeklärtes Zeitalter überhaupt geben oder hat unsere Vernunft Grenzen? 

„Sollte sich das tatsächlich bestätigen, hätte man dem Gottesteilchen endlich das entscheidende Geheimnis entlockt.“ („Hoffen auf das Gottesteilchen“, SPIEGELOnline, 7.12.2011, Autor: Christoph Seidler)

Das Gottesteilchen (auch: Higgs-Boson: Teilchen, das als logische Folge der physik. Theorie des Higgs-Mechanismus (1964)  gesehen wird, der Leptonen und ähnlichen Teilchen (Grundeinheiten der Atome) ihre Masse zuweist. Das Higgs-Boson wird für diesen Prozess benötigt, konnte aber noch nicht nachgewiesen werden (->Stringtheorie).). Es soll das Tor zur vollständigen Erkenntnis der Welt öffnen. Man erhofft sich damit, die gesamte Schöpfung und somit das gesamte Universum verstehen und erklären zu können. Doch kann der Mensch wirklich allein durch seinen Willen in so komplexe Welten eindringen? Oder ist die Erkenntnis des Menschen nicht doch beschränkt?

Was ist ein „aufgeklärtes Zeitalter“?

Zuerst stellt sich einmal die Frage, was denn überhaupt unter einem aufgeklärten Zeitalter zu verstehen ist. Ist es ein Zeitalter, in dem den Menschen wirklich alles Wissen zu jedem Zeitpunkt unbeschränkt zugänglich ist? Oder reicht es, wenn die Menschen glauben, alles zu wissen? Wenn sie einfach nicht ahnen, dass da noch irgendetwas sein könnte, von dem sie nichts wissen? Und gibt es diese Grenze des vollendeten Wissens überhaupt?

Nehmen wir einmal an, die Menschheit wüsste nicht, dass es noch irgendetwas gibt, das sie nicht versteht. Sie würde sich für aufgeklärt halten. Sie würde glauben, alles erreicht zu haben und behaupten, in einem aufgeklärten Zeitalter zu leben, weil sie es gewollt hat. Durch den freien Willen und durch große Anstrengungen sei es gelungen, jedem Menschen alles Wissen immer und überall zugänglich zu machen. Doch es würde immer noch etwas geben, was dem Menschen nicht bekannt ist. Im Gegensatz zu Sokrates‘ Ausspruch  „Ich weiß, dass ich nicht weiß“  würde er glauben, alles zu wissen, obwohl dem nicht so wäre.  Es würde sich also nicht um ein aufgeklärtes Zeitalter handeln.

Voraussetzungen

Doch kann es tatsächlich volle Aufklärung geben? Dazu müssten erst einmal sämtliche Naturwissenschaften erforscht werden. Dies erscheint geradezu trivial, wenn man sich bewusst macht, dass für die volle Aufklärung auch sämtliche geschichtliche und soziologische Aspekte erkannt werden müssten. Was geschah vor sagen wir 300 Jahren und drei Tagen auf der Rialtobrücke? Wir wissen es nicht und können es auch nicht irgendwo nachschlagen – man müsste schon eine Zeitmaschine entwickeln. Oder ein noch einfacheres Beispiel. Ob ich jetzt gerade, während ich diese Erörterung schreibe, ein Hustenbonbon lutsche – und wenn ja, welche Sorte – ist ein Wissen, das dem größten Teil der Menschheit vorenthalten bleibt und es ist in wenigen Tagen nicht mehr nachvollziehbar, da ich es vermutlich vergessen habe. Wenn es ein Zeitalter des vollendeten Wissens geben sollte, müsste selbst diese Information irgendwie festgehalten werden.

Außerdem wäre es erforderlich, Gedanken lesen zu können. Um ein vollendetes Wissen zu erhalten, müsste ich die Gedanken meines Gesprächspartners kennen. Meiner Erkenntnisfähigkeit sind hier Grenzen gesetzt. Vielleicht kennt man irgendwann auch hierfür ein technisches Hilfsmittel, doch wenn ich dieses einmal nicht bei mir tragen sollte, wäre ich nicht mehr vollständig aufgeklärt.

Geschichte

Durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht sich das Streben nach Aufklärung, freilich zumeist im naturwissenschaftlichen Bereich. Der Mensch lernte die Kunst des Jagens; er lernte seine Feinde zu fürchten und seine Freunde zu lieben, Feuer zu entfachen und zu kontrollieren und das Rad als Fortbewegungsmittel zu schätzen. Immer weiter entfaltete sich sein Horizont, er lernte, die Welt zu verstehen. Doch nicht vollständig. Er befindet sich in der Transformation vom unwissenden, hilflosen Wesen zum aufgeklärten, allmächtigen Menschen. Nun stellt sich jedoch die Frage, ob dieser Weg immer weiter verläuft oder ob er irgendwann eine Grenze erreicht – ähnlich einer mathematischen Wurzelfunktion, die immer auf eine Grenze zu strebt, sich dieser immer weiter annähert, aber sie selbst in der Unendlichkeit nie erreicht oder gar überschreitet. Im letzten Jahrhundert gelangen der Wissenschaft viel größere Fortschritte als jemals zuvor – auch weil sich die Wissenschaft vollständig von der Kirche bzw. der Religion getrennt hatte und quasi als eine Art Ersatzreligion agierte. Der Zug der Erkenntnis hat also richtiggehend Fahrt aufgenommen.

Philosophischer Adventskalender 2014Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt