Ghiarel

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Müde legte ich mich ins Bett und dachte nach. Es ist Anfang der Herbstferien. Eben hatte ich eine Doku über Unterwassertiere gesehen, die mir ein Bekannter meiner Pflegeeltern zum 11. Geburtstag, also vor 4 Jahren, geschenkt hatte. Ich musste schmunzeln, so ein geschmackloses Geschenk hatte bisher noch niemand verschenkt, dessen war ich mir sicher. Er hatte es mir damals überreicht mit den Worten: "Alles Gute, Thalia! Mögest du eine blühende Fantasie und ein wundervolles Leben haben, voller ehrlicher Freude und amüsanter Komik." Ich sah den wundersamen Kauz vor meinem inneren Auge als unscharfes Abbild der Erinnerung. Er war groß und schwank gewesen, hatte Sandalen getragen und eine schmale elegante Stubsnase gehabt. Draußen fuhr ein Auto entlang und wischte mit den Scheinwerfern das Bild weg, ich wälzte mich noch einmal um und schlief schließlich an nichts denkend ein...

Mit der Schwanzflosse schlagend schoss ich durchs Wasser und genoß das Gefühl von Freiheit, Schwerelosigkeit, Geschwindigkeit und die Stille. Ich konnte all die Tiere sehen, die ich ja jetzt kannte und all die anderen, alles, was es geben könnte, und staunte. Hier war Zeit so machtlos, ich fiel nicht, ich hatte kein Bedürfniss, ich hatte alle Zeit der Welt und staunte weiter.

Mir fuhr eine kühle Strömung durchs Gesicht und ich trieb ein wenig weiter vor mich hin und lauschte der Melodie, die von irgendwo wunderschön her kam und lauter wurde.

Ich kannte sie, ja, genau, sie kam doch von meinem Handy! Oh mein Klingelton.
Mit einem Gefühl der Unwirklichkeit setzte ich mich auf und schnappte mir das Dudeldingen. Mein Hals fühlte sich an, als ob ich einen Sonnenbrand hätte und meine Beine waren noch ganz steif vor Schlaf. Meines Wissens nach war heute Sonntag und jeder, der zu solch unchristlichen Zeiten anrief ein Dummkopf. Seufzend drehte ich das Handy um und sah meinen besten Freund zu einem Videoanruf anfragen. Nun gut, er durfte mich verschlafen sehen, ich nahm ab.

"Jarne. Du hast mich aufgeweckt, es ist noch viel zu früh! Ich hab so schön geschlafen..." Er lachte: "Thalia, du hast doch nicht ernsthaft noch geschlafen, wir haben kurz vor eins." „Doch. Is echt schon so spät? Och man!"
„Jo, ich hoffe, du bist mir nicht böse, aber ich bin schon um 6 aufgewacht. Und weil meine Mum die Konsole versteckt hat und gedroht hat, mir zwei Wochen kein Taschengeld zu zahlen, wenn ich die suche, hab ich jetzt Langeweile." "Achja, da war ja was. Schon gut. Aber ich hatte so einen interessanten, schönen Traum, in dem ich ein Hai oderso war. War irgendwie merkwürdig und herrlich gleichzeitig. Aber naja, technisch gesehen... Hättest du mich nicht aufgeweckt, hätt ich mich nicht dran erinnert", seufzte ich, hustete und kratzte mich am Nacken. Die Haut war schon irgendwie trocken. "Lol. Aber sag mal, hast du dir deinen Hals angemalt?" "Was? Nein, wieso sollte ich?" Ich sprang auf und ging ins Bad. "Du hast da aber son paar Striche."

Da ich keine Geschwister hatte, fiehl die Möglichkeit schonmal weg, dass die Striche von anderen aufgemalt wurden. Ich sah in den Spiegel und tatsächlich waren da rechts und links jeweils vier parallele Streifen, leicht gekrümmt und in rosa. "Hä? Was ist das?" Ich führ mit dem Zeigefinger über dieses komische Mal.

"Autsch, Jarne, das ist irgendwie in der Haut!
Du, das ist glaub ich nicht aufgemalt, das tut weh...!
Aber es blutet nicht, also hab ich mich nicht geschnitten. Es so gleichmäßig und woher kommt das und wieso hab ich das auf beiden Seiten?" Ich atmete etwas hektischer und starrte auf das Spiegelbild. Und bekam einen kleinen Anflug von Panik. Mein Kopf war wie leer gefegt. Doch dann wurde ich mir selbst wieder bewusst.

Wie Stromschläge schossen mir tausende Fragen durch den Kopf,
lähmend und grell schreiend, während die Welt um dieses Bild meiner selbst
in jenem Spiegel verschwamm und verblasste.

„Hey! Hallo, Thalia, hör mir zu!", erklang es von irgendwoher.
„Es wird alles gut. Sieh mich an! Hörst du? Es wird alles gut."
Ich starrte weiterhin auf meinen Hals.
„Es wird sieh nicht weiter weh tun, atme tief ein, du hast grade einfach nur komische Striche am Hals entdeckt, und ausatmen, und keinen bösen Mann mit Messer" Ich hob die Hand mit dem Handy und starrte entgeistert schweigend auf das projizierte Gesicht. „Nimm dir jetzt erstmal einen nassen Lappen und leg ihn auf deinen Hals, dort, wo die Striche sind. Pass auf, dass er dich nicht auskühlt und du dich erkältest. Dann gehst du wieder ins Bett und guckst erstmal nicht in den Spiegel, verdtanden? Ich leg jetzt auf und komm zu dir, okay? Und bau keine Scheiße solange." Ich schniefte durch die fast leere Nase, mehr um mich zu sammeln, als dass es meiner Nase half. Es war eigentlich eher ein unangenehmes Gefühl. „Okay", sagte ich tonlos und verdrängte mit aller Kraft das eben festgestellte, denn das war jetzt, bis Jarne hier gewesen sein wird, unwichtig. Er hatte aufgelegt. Er war kaum älter als ich, aber, warum auch immer, wusste er spontan immer viel mehr als ich. Ich war ihm in diesem Moment zu tiefst dankbar, dass er immer eine Lösung parat hatte und mich nie für etwas distanziert, schief angeguckt hat. Wie ich ihn kennengelernt hab weiß ich garnicht, aber wir haben uns schon als kleine Kinder alles erzählt, wenn wir nicht zusammen den Mist verzapft hatten. Mit fünf Jahren hatte er mir mal die Haare geschnitten, als wir Friseur gespielt hatten und seit dem hatte ich die Haare, deren Farbe Ähnlichkeiten mit Wallnüssen hatte, so kurz gelassen, also etwa schulterlang.
Aber wie genau hatte er so ruhig reagieren können? Das ist doch jetzt unwichtig, ermahnte ich mich.

meine IrrfahrtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt