Schlaf der Heilerin

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Als Seraphine wieder in ihre Hütte trat, war sie beinahe überrascht, als sie Vane immer noch im Bett liegend vorfand. Seine Hände lagen auf seinem Bauch, sein Blick studierte eingehend das Dach der Hütte. Als er sie jedoch bemerkte und sie ihm Essen und Wasser hinstellte, richtete er sich etwas auf, um leichter essen und trinken zu können. Seraphine setzte sich unterdessen auf die Bettkante und untersuchte ihre Fingernägel. Vane leerte unterdessen zwei der drei Wasserschläuche und vertilgte neben dem Eintopf und der Keule auch noch die Hälfte des Brotes. Nach drei Tagen Schlaf war er wohl ziemlich ausgehungert. Als er fertig war, stellte sie die Schale, die Hälfte des Brotes sowie die leeren Wasserschläuche auf einen kleinen Tisch, damit sie keinen Platz am Bett einnahmen und Vane sich wieder entspannt hinlegen konnte.

Sie selbst zog ihren Stuhl an das Bett heran und nahm darauf Platz. Vane lag auf der Seite und betrachtete sie eingehend. Eine Zeit lang hielt sie seinem Blick stand, schließlich jedoch senkte sie ihn und betrachtete erneut ihre Fingernägel.

„Versucht Ihr herauszufinden, ob Ihr es schaffen könntet an mir vorbeizustürmen, um endlich aus meiner Hütte und der auferlegten Bettruhe zu entkommen, Captain Vane?", fragte sie ihn dann herausfordernd und zog eine Augenbraue hoch, als sie ihn wieder ansah.

Vane lächelte daraufhin schelmisch und schüttelte den Kopf.

„Bitte nenn mich Charles, diese Formalitäten sind nicht notwendig. Und nein, das versuche ich nicht. Ich dachte nur, dass du den Schlaf vermutlich nötiger hast als ich, du siehst wirklich müde aus", erwiderte er schließlich und als Seraphine nichts erwiderte, fuhr er fort, „ich habe dir mein Wort gegeben, dass ich das Bett hüten werde und zu meinem Wort stehe ich. Du kannst beruhigt schlafen. Sollte ich ärztliche Hilfe brauchen, werde ich dich aufwecken."

Seraphine sah Vane eine Zeit lang zweifelnd an. Er war Pirat, Piraten logen für gewöhnlich. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als einzusehen, dass ihr keine andere Wahl blieb. Sie konnte nicht drei weitere Tage wach bleiben um Vane ständig zu überwachen. Wenigstens einige Stunden Schlaf musste sie sich genehmigen, sonst würde sie den Piraten ohnehin nicht mehr lange anständig versorgen können. Sollte sich sein Zustand doch noch verschlechtern, wäre sie mit diesem Ausmaß an Müdigkeit nicht in der Lage, ihm zu helfen. Nachdem sie diesen Umstand anerkannt hatte, hatte sie schon keine Möglichkeit mehr etwas zu Vane zu sagen. Ihr Kopf sank nach hinten auf die Stuhllehne und ihre Augen waren bereits geschlossen. Ehe sie noch einen weiteren Gedanken fassen konnte, war sie in einen tiefen Schlaf gesunken.



Beinahe war Vane überrascht, dass die Heilerin nicht erneut widersprach, doch die Müdigkeit war wohl stärker. Es hatte etwa fünf Sekunden gedauert, dann waren ihre Atemzüge bereits tiefer und langsamer geworden und der Schlaf hatte sie übermannt. Lange Zeit betrachtete er die junge Frau, die in einer vermutlich sehr unbequemen Position am Stuhl eingeschlafen war. Ihr braunes Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, lag über ihrer Schulter und hing bis zu ihrer schmalen Taille hinab. Die geschlossenen, braunen Rehaugen, waren von einem dichten Wimpernkranz umgeben. Obwohl sie auf dieser Insel lebte, war ihre Haut nicht wie die der anderen Sklaven braungebrannt, sondern außergewöhnlich hell. Auf ihrer rechten Wange prangte ein großer blauer Fleck, und Vane fragte sich, wer ihr diesen zugefügt hatte.

Nach einiger Zeit ging die Tür auf und eine blonde Frau kam herein. Als sie niemanden auf der Bare liegend vorfand, blickte sie sich verwirrt um und ihr Blick blieb an der jungen Frau hängen, die tief und fest am Stuhl sitzend schlief. Dann wanderte ihr Blick zu Vane.

„Es freut mich, dass Ihr aufgewacht seid. Und ich sehe, dass Seraphine Euch bereits Speis und Trank gebracht hat. Benötigt Ihr sonst noch etwas?" fragte sie höflich.

„Nein, danke", sagte Vane.

Die blonde Frau kam näher und sah sich die Heilerin, deren Name offensichtlich Seraphine war, genauer an. Ihr Gesichtsausdruck war besorgt und sie schüttelte den Kopf.

„Endlich schläft sie, ich dachte schon, sie würde bis zu Eurer vollständigen Genesung kein Auge mehr zu tun. Wie habt Ihr sie nur dazu überreden können sich endlich etwas Schlaf zu gönnen?", meinte die Frau schließlich halblaut und warf Vane einen Blick zu, den dieser nicht zu deuten vermochte.

Vane sah sie irritiert an.

„Willst du damit sagen, dass sie mehr als drei Tage am Stück wach war?", fragte er schließlich ungläubig.

Die blonde Frau nickte mit vor Sorge zusammengezogenen Augenbrauen und sah erneut zu Seraphine hinüber.

„Ja. Sie hat gesagt, dass sie sich keinen Moment der Unachtsamkeit erlauben dürfe, solange Ihr nicht aus dem Fiebertraum erwacht seid. Ich habe Ihr zwar angeboten einige Stunden über Euch zu wachen, damit sie schlafen kann, doch davon wollte sie nichts hören. Ich bin schließlich keine Heilerin und wüsste nicht was im Ernstfall zu tun wäre", meinte sie und lachte freudlos, dann richtete sie ihren Blick wieder auf Vane und ihr Ton wurde freundlicher, „jedenfalls freut es mich, dass es Euch wieder besser geht, Euer Zustand war wirklich besorgniserregend."

Mit diesen Worten und ohne eine Antwort abzuwarten bewegte sie sich auf die Tür zu. Ehe sie jedoch hinaustrat, erhob sich Vanes Stimme hinter ihr und hielt sie davon ab die Tür hinter sich zu schließen.

„Der Bluterguss an ihrer Wange, von wem stammt er? War das Albinus?" fragte Vane und seine Stimme klang gepresst.

Die blonde Frau drehte sich noch einmal um und legte die Stirn in Falten. Sie warf Vane einen Blick zu, in dem er Tadel zu erkennen glaubte. Einige Zeit starrte sie ihn nur an.

„Nein. Albinus hat ihr viele Wunden zugefügt, doch diese stammt von Euch, als ihr im Fieberwahn um Euch geschlagen habt", meinte sie dann sachlich und trat dann nach draußen und hatte die Tür hinter sich geschlossen, ehe Vane noch etwas erwidern konnte.

Vane schaute ungläubig zu Seraphine. Wut breitete sich in ihm aus. Als Dank für ihre Fürsorglichkeit, hatte er ihr ins Gesicht geschlagen. Wenn er es auch nicht bewusst getan hatte, so breitete sich dennoch ein beißendes Schuldgefühl in dem Piraten aus. Verärgert schüttelte er den Kopf. Doch der Zorn galt nicht nur ihm selbst, sondern noch etwas anderem. Die Frau hatte gesagt, dass Albinus ihr viele Wunden zugefügt hatte. Vane wusste, dass der emeritierte Pirat vor nichts und niemandem Respekt hatte, doch gute Heiler existierten nur in kleiner Zahl, weshalb man diese auch niemals schlecht behandelte. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Den Heiler der Crew zu verlieren, konnte gravierende Folgen haben. Doch das war nicht der einzige Grund für Vanes Zorn. Als er Seraphine so anschaute, wollte er sich einfach nicht vorstellen, dass irgendjemand ihr Schmerzen zufügte. Soweit er das bisher beurteilen konnte, war sie ein liebevoller und guter Mensch, sie hatte es nicht verdient so behandelt zu werden. Zumindest versuchte Vane sich einzureden, dass dies der Grund für seinen Zorn war.

Noch eine Weile betrachtete Vane Seraphine, wobei er versuchte, den Bluterguss so gut wie möglich zu ignorieren. Schließlich stellte er sich vor, welche Nackenschmerzen sie heimsuchen würden, sobald sie aufwachte. Seine Kiefer mahlten, während ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, dass er nicht wollte, dass sie seinetwegen noch mehr Schmerzen ertragen musste. Der Schlag ins Gesicht verursachte bereits mehr als genug Schuldgefühle bei Vane.

Obwohl sie darüber vermutlich nicht sehr erfreut und noch viel weniger einverstanden wäre, erhob sich Vane langsam. Sanft schob er einen Arm unter ihre Beine und den anderen hinter ihren Rücken. Langsam hob er sie hoch, wobei ihm dabei ein scharfer Schmerz in die Brust fuhr. Er schaffte es jedoch ein schmerzerfülltes Stöhnen zu unterdrücken. Mit wackeligen Schritten wankte er zum Bett zurück, wo er Seraphine hinlegte, so sanft er nur konnte, damit sie nicht aufwachte. Diese jedoch schlief tief und fest und gab lediglich einen wohligen Seufzer von sich, als sie sich ins Kissen schmiegte.

Vane legte sich nebensie. Er betrachtete ihr entspanntes Gesicht und lauschte ihren tiefenAtemzügen. Eine einzelne Strähne ihres Haares lag über ihrem Gesicht undbewegte sich immer, wenn sie ausatmete. Ohne darüber nachzudenken streckte Vanedie Hand danach aus und strich die Strähne hinter Seraphines Ohr. Dabei ließ ersich mehr Zeit als notwendig und Vane ließ es sich auch nicht nehmen, mit einemFinger über ihre samtweiche Wange zu streichen. Noch einige Zeit betrachtete erSeraphine, bis er schließlich selbst von der Müdigkeit übermannt wurde und inden Schlaf sank.

Die Stärke des Piratencaptains - Charles VaneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt