1. Ankommen

3 0 0
                                    

 -Victoria- 

An der Woodham School im Süden Englands, nicht weit von London entfernt, beginnt das neue Schuljahr stets am 1. September. Dann beginnt wieder die Zeit, in der 140 Schülerinnen von überall her anreisen, um sich erneut ein Dreivierteljahr lang ihrer Ausbildung zu widmen. Die Woodham ist eine private Mädchenschule mit angrenzendem Internat, die 1589 gegründet wurde. Aus diesem Jahr stammt auch das stattliche Gebäude aus rotem Stein, welches als Schulgebäude dient. Das Internat wurde 1614 nachträglich dazu gebaut, da die Anfragen an die Schule so hoch waren. Inzwischen hat die Schule in ganz England großes Ansehen erlangt, denn nur dort, so heißt es, garantiert man jedem Schüler ein erstklassiges Zeugnis und öffnet ihm damit alle Türen für ein erfolgreiches Berufsleben. Man Chancen an nahezu jeder Eliteuniversität der Welt. Dieses ganze Zeug stand auf der Homepage der Schule und Victoria kannte es auswendig. Seit sie 11 Jahre alt war, ging sie auf die Woodham School, die für sie bereits so etwas wie ein zweites Zuhause geworden war. Kaum zu glauben, dass dieses Jahr nun ihr letztes sein würde, bevor sie ein Studium beginnen würde. Ihr Vater war Geschäftsmann, ihre Mutter hauptberuflich Ehefrau. Sie lebten in einer Villa in Asfordby, auch wenn sie hier nicht oft waren. Victoria war nur zu Weihnachten und im Sommer Zuhause bei ihren Eltern und da machten sie meistens Urlaub und flogen weg. Ihre Eltern kamen sie selten im Internat besuchen, weil sie viel unterwegs waren, aber das machte ihr nichts. Sie war schließlich kein kleines Kind, was ständig Mama und Papa um sich brauchte. Außerdem kannte sie es ja nicht anders. Sie lehnte mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe ihres Bentleys und schaute zu, wie die Landschaft an ihr vorüberzog. Die Woodham war eine sehr strenge Schule, an der man einen strikten Tagesplan bekam, jedoch freute sie sich darauf, dass das neue Schuljahr begann. In Asfordby hatte sie ja kaum Freunde und ohne Freunde in einer Villa auf dem Land zu sitzen, war ziemlich langweilig. Sie erreichten die Auffahrt vor dem alten Gemäuer, in welchem sie jetzt wieder wohnen würde und Victoria richtete sich in ihrem Sitz auf. Es war ein warmer Tag und morgen würde der Unterricht wieder losgehen. Also hatten sie noch einen Tag, an dem sie keine Schuluniformen tragen und den Nachmittag nicht mit lernen verbringen mussten. Sie stiegen aus dem Auto aus und ihre Mutter zupfte ihr Kostüm zurecht. "Warum ziehst du auch so etwas unpraktisches für eine lange Autofahrt an, Beverly?", fragte ihr Vater und zündete sich eine Zigarre an. "Dad, hier ist Rauchen verboten.", sagte Victoria und warf ihm einen scharfen Blick zu. "Ach, verdammt.", schimpfte Harald Davis und drückte seine Zigarre auf dem eleganten silbernen Behälter, aus der er sie genommen hatte, aus. "Ihr müsst nicht unbedingt mit rein kommen, so langsam kenne ich mich hier ja aus.", sagte Victoria und nahm ihren Koffer aus dem Auto. Die meisten ihrer Sachen hatte sie in ihrem Zimmer im Internat, dieser Koffer war nur ihr Reisegepäck für die paar Wochen, in denen sie Zuhause war. "Na gut Schätzchen, dann lass dich nochmal drücken.", sagte Beverly Davis und kam mit ausgestreckten Armen auf ihre Tochter zu. Sie war eine sehr dünne Frau und wenn man sie umarmte, konnte man die Dornfortsätze ihrer einzelnen Wirbel Spüren. "Wir sind noch bis Ende der Woche Zuhause, du kannst ja mal anrufen, wenn der Unterricht wieder losgegangen ist.", sagte ihr Vater und umarmte sie ebenfalls zum Abschied. An einer gewöhnlichen Schule hätten sie mit ihrem Auftreten und ihrem Bentley vermutlich alle Blicke auf sich gezogen, doch an der Woodham war sowas normal. Bonnies Eltern hatten auch einen Bentley, aber ein älteres Modell. Mit Bonnie wohnte sie auf einem Zimmer, es gab immer Zweibettzimmer. Das war wie mit einer Schwester zusammen wohnen. Sie winkte ihren Eltern noch zu und schnappte sich dann ihren Rollkoffer, um zu ihrem Zimmer zu gehen. Wenn man durch die Eingangstür ging, kam man in eine große Halle mit dunkler Holzvertäfelung, in deren Mitte eine Sekretärin saß und alle Schüler notierte, die eintrafen. "Victoria Davis, Zimmer 113.", sagte Victoria und die Sekretärin gab es in ihren Computer ein. Hier musste man sich immer abmelden und auch wieder anmelden, wenn man zurück kam. Ganz egal ob man zum Unterricht oder zu einer außerschulischen Aktivität gehen wollte. Das sollte verhindern, dass man Umwege nahm und keiner wusste, wo man war. Das nicht gerade geringe Schulgeld zahlten die Eltern schließlich nicht nur für außerordentliche Bildung, sondern auch für außerordentliche Sicherheit ihrer Tochter. Natürlich hatten Victoria und ihre Freundinnen längst Wege gefunden, sich aus dem Internat zu schleichen, ohne sich abmelden zu müssen. An der Anmeldestelle bekam sie auch den Schlüssel für ihr Zimmer zurück, mit dem sie sofort nach oben eilte. Die Tür war noch verschlossen, Bonnie war also noch nicht da. Die Zimmer waren klein, verglichen mit ihren Zimmern Zuhause aber trotzdem waren sie trotz des alten Gebäudes hochmodern und gemütlich. Es gab zwei Betten und zwei Wandschränke, zudem hatte jede ihren eigenen Schreibtisch mit einem Regal für Bücher und Schulunterlagen. Jedes Zimmer verfügte zudem über ein eigenes Bad. Sie packte ihren Koffer aufs Bett und verließ das Zimmer gleich wieder, um nachzusehen, ob die Anderen schon da waren. Das Zimmer zwei Türen weiter teilten sich Anne und Catherine, beide saßen schon auf ihren Betten. Als Victoria hereinkam, fielen sie ihr freudig um den Hals. "Ist Riley schon da?", fragte sie die beiden, als sie sich auf Annes Bett fallen ließen. "Auf dem Klo.", kicherte Catherine und deutete in Richtung Flur. Riley war bis zu Beginn des letzten Halbjahres mit einem Mädchen Namens Mary-Alice auf einem Zimmer gewesen, doch als diese schwer an Rheuma erkrankte, hielten ihre Eltern es für besser, sie auf eine Schule in ihrer Nähe mit weniger Leistungsdruck zu schicken. Riley neue Zimmergenossin war Carrie, ein unscheinbares Mädchen, dass durch ein Naturwissenschaftstipendium den Platz an der Woodham bekommen hatte. Ihre Eltern waren alles andere als reich und es wirkte, als würde sie den Kontakt mit den anderen Mädchen lieber meiden. Riley war deshalb nur zum Schlafen auf ihrem Zimmer, sie hielt Carrie für seltsam. Zuhause musste sie viele Katzen haben, denn sie hatte Bilder von Katzen über ihrem Bett hängen und schlief in einer Katzenbettwäsche. Allgemein wirkte sie jünger als siebzehn, was vielleicht auch daran lag, dass sie wenn überhaupt mit den Mädchen aus den unteren Jahrgängen abhing. Sie glaubten, dass Carrie sich von den anderen distanzierte, weil sie selbst wusste, dass sie anders war. Sie hatte ganz andere Arten, ihre Ferien zu verbringen, andere Hobbys und natürlich andere Kleidung. An der Woodham wurden erst seit zwei Jahren Schüler mit Stipendien aufgenommen und diese, insgesamt waren es nun drei Mädchen, erkannte man auf den ersten Blick. Die anderen beiden Schülerinnen waren allerdings ein paar Jahrgänge unter ihnen. "Na wen haben wir denn da?", kam es nun von der Zimmertür, wo Riley gerade von der Toilette zurück kam. "Wir dachten schon du wärst in New York geblieben." Auch sie fiel Victoria um den Hals und drückte sie herzlich. Victoria spürte ihre spitzen Schlüsselbeine, die wie alle Knochen an ihrem dünnen Körper markant herausstanden. "Glaub mir, fast wäre ich das auch, nur meine Eltern hätten wohl was dagegen gehabt.", scherzte sie. In den Ferien war sie mit ihren Eltern in New York gewesen und es war großartig. Allen anderen hatte sie dies mit zahlreichen Instagram - Postings mitgeteilt, schließlich musste man es ausnutzen, wenn man acht Wochen lang jeden Tag sein Handy uneingeschränkt benutzen darf. In der Schule sowie dem Internat gibt es spezielle Störsender, die verhindern, dass Handys funktionieren. Für den Unterricht gibt es daher spezielle Räume, in denen die Schülerinnen das Internet nutzen können und im Internat haben sie den sogenannten "Freizeitraum", der jeden Tag von achtzehn bis zwanzig Uhr geöffnet ist. Für normale Teenager wäre das sicher ein Alptraum, aber die Mädchen kannten es nicht anders. "Ich hab' euch auch was zu erzählen, das hört ihr heute Abend.", kündigte Catherine an und rutschte aufgeregt auf dem Bett hin und her. "Was ist los? Sag schon!", protestierte Anne und knuffte sie in die Seite. "Lass uns warten bis Bonnie da ist, okay?", fragte Catherine beschwichtigend. "Na gut, ich hoffe sie taucht bald auf.", entgegnete Anne. "Du kennst doch Bonnie. Dann muss sie dies noch einpacken, dann hat sie das vergessen - sie ist nie pünktlich.", sagte Victoria und sie lachten. Eine gute halbe Stunde unterhielten sie sich angeregt und erzählten, was ihnen in den Ferien so alles passiert war, bis auch die letzte Person ihrer Clique eintraf, Bonnie. Bonnie hatte schulterlange braune Haare und einen stets rot geschminkten großen Mund mit dem sie unverwechselbar lächeln konnte. Außerdem war sie die, die immer gut drauf war, auch wenn alle anderen einen miesen Tag hatten. "Hast du eine neue Frisur?", fragte sie Catherine, als sie sie begrüßte und fuhr ihr durch die roten Haare. "Scharf beobachtet.", sagte diese und strich sich selbst die glatten, kupferroten Haare nach hinten. "Das ist aber nicht das einzige, was neu ist." Sie grinste in die Runde, wo die Freundinnen sichtlich auf die Folter gespannt waren. Sie stand vom Bett auf und zog ihr geblümtes Kleid bis zur Unterhose hoch, womit sie ein großes Tattoo auf ihrem rechten Oberschenkel entblößte. Es war ein sehr gut gestochener Löwe mit wilder Mähne in Grauschattierung. "Oh mein Gott wie geil.", stieß Riley hervor und sie betrachteten beeindruckt den neuen Körperschmuck ihrer Freundin. "Wie hast du es geschafft, dass deine Eltern dir DAS erlauben?", fragte Victoria und strich über die frisch tätowierte Haut, die schon ziemlich gut abgeheilt war. Es fühlte sich noch ein bisschen rau und dick an, sah aber sehr filigran und akkurat aus. "Gar nicht.", kicherte Catherine und setzte sich wieder hin. Die Freundinnen sahen sie mit offenen Mündern an. "Meine Eltern wissen nichts davon, deswegen waren die ganz kurzen Hosen und Röcke diesen Sommer für mich tabu.", sagte sie und zuckte mit den Achseln. "Was passiert, wenn das jemand rausfindet?", fragte Anne etwas skeptisch. An der ganzen Woodham gab es niemanden mit einer Tätowierung, zumindest niemand, von dem sie es wussten. Tattoo und Piercings waren hier streng verboten, genauso wie Miniröcke oder abstrakte Haarfarben. An so einer elitären Schule gibt es auch ganz schön oberflächliche Regeln aber zu einem erfolgreichen Berufsleben gehörte nun einmal auch ein seriöses Auftreten. "Sie werden es erst herausfinden wenn ich achtzehn bin. Sie sehen mich ja das ganze Jahr über nicht und an Weihnachten werde ich sowieso lange Kleidung tragen. Genauso wie hier in der Schule, wenn nicht einer von den Lehrern auf die Idee kommt, mir in die Dusche zu folgen, wird es keiner merken.", sagte Catherine abgeklärt. "Du kleiner Rebell.", sagte Bonnie übertrieben entsetzt spielend und stieß sie an. "Ich habe irgendwie total Hunger, so langsam sollte es doch auch bald Essen geben, oder was meint ihr?", fragte Anne und die fünf Mädchen beschlossen, sich auf den Weg zur Kantine zu machen. Zu spät zum Essen zu kommen war unter anderem auch ein Regelverstoß, denn die Schülerinnen hatten einen getakteten Zeitplan. Sie setzten sich mit ihren Tablets gemeinsam an einen Tisch, die Kantine war schon ziemlich voll. „Sieh mal wer auch schon da ist.", sagte Victoria zu Riley und deutete auf den Nebentisch, an dem ganz allein Rileys Mitbewohnerin Carrie saß und in ihrem Reis stocherte. „Oh man, ich hab echt kein Bock noch ein Jahr mit der auf einem Zimmer zu wohnen. Sie redet nie und ist so merkwürdig.", seufzte Riley und warf Carrie nur einen flüchtigen Blick zu. „Hast du schon mal gefragt, ob du tauschen darfst?", fragte Bonnie mit vollem Mund. „Wir dürfen sowas nur, wenn ein guter Grund vorliegt, wenn sie mich vom Lernen abhalten würde oder wir Streit hätten oder so. Außerdem will doch auch kein anderer mit ihr auf ein Zimmer, mit wem sollte ich also tauschen?", antwortete Riley. „Stimmt auch wieder. Ich würde auch nicht mit dir tauschen wenn ich ehrlich bin.", sagte Bonnie und grinste sie an. „Das schaffst du schon irgendwie, zum Lernen kannst du ja einfach mit auf unser Zimmer kommen.", meinte Anne. Riley nickte zustimmend. „Bei einer Sache könnte Carrie uns allerdings schon stören.", setzte Catherine an und senkte ihre Stimme, sodass sie alle die Köpfe enger zusammensteckten, um sich verstehen zu können. „Ich habe uns was besorgt, was wir morgen Abend ausprobieren können. Ich hab's draußen außerhalb des Schulgeländes versteckt, damit es keiner findet. Wir schleichen uns raus wie immer, du musst nur dafür sorgen, dass sie die Klappe hält.", flüsterte Catherine und neigte ihren Kopf in Richtung Carrie. "Du meinst...Drogen?", fragte Anne vorsichtig. "Psst!", zischte Riley und sah sich nervös um, doch niemand schien sie gehört zu haben. "Nur ein bisschen Marihuana. Ich erzähle euch später, woher ich's hab. Ich dachte, wir feiern damit unser Wiedersehen." Catherine lächelte in die Runde und die Mädchen lächelten zurück. "Aber das machen wir erst morgen, am ersten Abend ist mir das zu riskant. Okay?" Sie nickten und rutschten alle wieder etwas auseinander, um weiter essen zu können. Carrie war inzwischen fertig mit ihrer Mahlzeit, stand auf und ging. Dabei sah sie kurz zu den Mädchen herüber und schenkte Riley ein kaum sichtbares Lächeln, welches diese nicht erwiderte. 

Jeden Abend beginnt an der Woodham um 22 Uhr die Nachtruhe. Dass man dann schlief, war nicht zwangsläufig der Fall, jedenfalls durfte man sich nicht mehr außerhalb seines Zimmers aufhalten und musste so leise wie möglich sein. Victoria und Bonnie lagen in ihren Betten und unterhielten sich, was sie eigentlich jeden Abend vor dem Einschlafen taten. "Ich bin so aufgeregt wegen morgen Abend, weißt du?", fragte Bonnie, während sie auf dem Rücken lag und die Decke anstarrte. "Ich auch, habe sowas noch nie gemacht. Aber Catherine weiß schon, was sie tut.", sagte Victoria. Sie hatte noch nie irgendwelche Drogen genommen und Alkohol trank sie nur sehr selten, da auch dieser an der Woodham verboten war. "Für Catherine ist es bestimmt nicht das erste Mal.", sagte Bonnie grinsend und drehte ihren Kopf zu Victoria herüber. "Nein ganz bestimmt nicht.", lachte diese etwas lauter, als sie es wollte. "Ich kann mir noch gar nicht vorstellen, die Schule irgendwann mal zu verlassen. Natürlich nervt sie aber hier sehen wir uns alle jeden Tag und wer weiß wie wir mal werden, wenn wir erst studieren oder einen Job haben. Hoffentlich werde ich nicht so spießig wie meine Eltern.", sagte Bonnie. "Das wirst du nicht. Aber diesen Alltag hier nicht mehr zu haben klingt für mich auch komisch. Verbotene Dinge zu tun macht doch außerdem nur dann richtig Spaß, solange sie verboten sind, oder?", erwiderte Victoria. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Mädchen noch keine Ahnung, wie schnell sich ihr Leben bald ändern würde. 


Der schöne ScheinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt