4. Befragung

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- Bonnie

In der darauffolgenden Nacht konnte keine von ihnen Ruhe finden. Sie brachten die Schubkarren zurück in den Geräteschuppen, auch wenn eigentlich keiner Motivation dazu hatte. Das Internats- und Schulgebäude lag nach wie vor in friedlicher Dunkelheit da, ein Zeichen dafür, dass nichts besonderes passiert war. Bonnie und Catherine lagen zusammen in Bonnies Bett und starrten die Decke an. "Was ist, wenn sie nie wieder auftaucht?", fragte Bonnie in die Stille hinein. Was sie an diesem Abend gesehen hatte, was das schlimmste, was sie je in ihrem Leben hatte sehen müssen, auch, weil es so unvorstellbar war. "Sie muss wieder auftauchen. Tot oder lebendig.", erwiderte Catherine trocken. "Ich kapier einfach nicht, wie sie verschwinden kann. Ich war mir so sicher, dass sie tot ist.", grübelte Bonnie weiter. "Das war sie auch, definitiv. Selbst wenn man im Koma liegt oder so hat man doch einen Herzschlag. Es kann nur irgendein kranker Typ ihre Leiche mitgenommen haben." Catherine verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte. "Wir müssen morgen abwarten. Vermutlich wird dann die ganze Suchaktion erst so richtig losgehen." Sie blieben die ganze Nacht nebeneinander liegen, auch wenn das Bett eigentlich viel zu klein war. Catherines leises Schnarchen verriet, dass sie irgendwann eingeschlafen war, doch Bonnie hatte das Gefühl, überhaupt nicht zu schlafen. Immer wieder nickte sie kurz ein, wurde dann aber wieder wach, schwitzte und hatte ein merkwürdiges Kribbeln in ihrem ganzen Körper. Irgendwie hielt sie auf diese Weise bis zum Morgen durch, bis der Wecker sie aus einem leichten Dämmerschlaf riss. 

In der Schule hatte sich Carries Verschwinden schnell herumgesprochen. Natürlich war sie nirgendwo aufgetaucht und die Polizei war bereits eingeschaltet worden. Die unscheinbare Carrie war jetzt das Gesprächsthema Nummer eins, sehr zum Leidwesen der fünf Freundinnen. Sie blieben gezielt unter sich und meideten den Kontakt mit Mitschülerinnen, weil sie wussten, über welches Thema diese dann reden wollen würden. "Es kotzt mich an, dass uns keiner was sagt. Hat man ihre Eltern schon informiert? Was wird getan um sie zu finden?", maulte Victoria, als sie in der Pause an einem Tisch draußen auf dem Gelände saßen. "Wenn du solche Fragen stellst, machst du dich besonders verdächtig. Wir haben uns überhaupt nicht mit Carrie verstanden, wenn wir jetzt einen auf besorgt tun, kommt das total komisch rüber.", sagte Riley eindringlich. "Sie hat Recht. Irgendwas würde ich aber auch gerne rausbekommen, diese Ungewissheit macht mich fertig." Anne stützte den Kopf auf die Hände. "Wahrscheinlich wissen sie nicht mehr als wir. Es wäre nur gut zu hören, in welche Richtung sie ermitteln. Es wird nicht lange dauern und sie werden jeden von uns befragen. Am ehesten wahrscheinlich dich, Riley.", sagte Catherine. Riley warf ihr einen zornigen Blick zu, obwohl es stimmte, was sie sagte. "Wir müssen jetzt alle wirklich dicht halten. Egal wie schlimm das gestern war - und das vorgestern - wir dürfen uns nicht anmerken lassen.", sagte Bonnie. In diesem Moment schlenderte Mr. Chapman an ihnen vorbei, ihr Lehrer für Biologie und Chemie. In der Hand hielt er eine Kaffeetasse und nickte ihnen freundlich lächelnd zu, als die Gruppe plötzlich verstummte, als habe er sie bei etwas ertappt. Mr. Chapman war mit Abstand der am besten aussehende Lehrer an der Woodham School, oder auch der einzige Lehrer, der überhaupt gut aussah. Er war Anfang vierzig, groß, trainiert, mit glattem dunkelblondem Haar und stets perfekt sitzenden, aber nicht spießig wirkenden Anzügen. Besonders Catherine hatte ein Auge auf ihn geworfen und manchmal schien es, als habe er das auch auf sie. "Vielleicht weiß ich, wie wir unauffällig an Informationen kommen können.", flüsterte sie, als Mr. Chapman sich ein Stück entfernt hatte. "Vergiss es. Glaubst du, er kann dir irgendwas sagen?", zischte Bonnie zurück, als sie Catherines Blick sah. "Die Lehrer haben sich sicher schon darüber ausgetauscht, wie es mit Carrie weiter gehen soll, er weiß also garantiert etwas. Ich muss nur ein bisschen meinen Charme spielen lassen.", sagte diese. "Jetzt komm nicht wieder damit an, dass er auf dich steht. Er ist ein Lehrer.", sagte Bonnie, die diesen Plan für zu riskant hielt. "Und er ist ein Mann. Die sind alle irgendwo gleich." Catherine zwinkerte ihr zu. "Was ist mit diesem Leo? Hast du den schon vergessen?", fragte Riley. "Ich habe euch doch gesagt, dass das nichts ernstes ist. Wir sind befreundet und hatten was miteinander, haben aber beide gemerkt, dass es für mehr nicht reicht. Außerdem ist Leo im Kopf noch ein kleiner Junge, unser Harry hier ist immerhin ein richtiger Mann.", sagte Catherine und sah in die Richtung von Mr. Chapman, der weiterhin über den Rasen schlenderte und an seinem Kaffe nippte. "Ach ihr seit schon beim du?", fragte Bonnie und zog die Augenbrauen hoch. Auch wenn sie es nie zugeben würde, war sie etwas eifersüchtig darauf, wie gut Catherine bei Männern ankam und glaubte in ihrem Inneren schon, dass Mr. Chapman etwas mit ihr angefangen hätte, wenn er nicht ihr Lehrer wäre. Trotzdem fand sie den Plan, ihn nach den Ermittlungen über Carrie zu fragen, heikel. Auch wenn er eine sehr offene Art hatte, kannten sie ihn nicht so gut, als das sie hätten beurteilen können, wie er bei solchen reagierte und ob er misstrauisch wäre. "Noch sind wir das nicht.", feixte Catherine zurück. "Wenn wir aber so tun, als würden wir uns gar nicht wundern was mit Carrie passiert ist, wirkt das auch komisch. Ich drehe außerdem auch, wenn ich nicht bald was erfahre. Keine Ahnung wie es euch geht, aber mir fällt es nicht leicht, hier rumzusitzen und einen auf Sonnenschein zu machen." "Es stimmt, irgendwas müssen wir rausfinden. Sollte sich auch nur irgendein Hinweis darauf ergeben, dass der Verdacht auf uns fällt, könnten wir uns besser stellen als erwischt zu werden.", meinte Anne und zuckte die Schultern. Bonnie sah sie zornig an. "Wir werden uns nicht stellen. Um nichts in der Welt. Wir haben nichts getan und stecken schon viel zu tief drin. Ich gehe bestimmt nicht in den Knast für so einen Mist.", sagte sie grob. "Machen wir es so: Catherine, du redest nach dem Unterricht mit Mr. Chapman, aber wir gehen vorher durch, was du ihn fragen sollst. Ansonsten ziehen wir diesen Tag jetzt durch und versuchen, Fragen von Mitschülern aus dem Weg zu gehen.", sagte Riley. Keine sagte daraufhin etwas, auch Bonnie nicht. Auch wenn es schrecklich war, sie mussten abwarten. 

Der schöne ScheinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt