- Catherine
Ihr Gespräch mit Mr. Chapman hatte Catherine bis zum Abend völlig vergessen. Nun war es allerdings auch nicht mehr wichtig, auch wenn sie gerne etwas Zeit mit ihrem Lehrer verbracht hätte. Sie stand unter der Dusche und ließ heißes Wasser über sich herabregnen. Als sie fertig war und in ihr Schlafzimmer kam, war Anne nicht da. Sie hatte sehr lange geduscht, deshalb war Anne wahrscheinlich zu den anderen Mädchen gegangen. Seit dem Unfall ertrug sie es nicht gut, allein zu sein, es machte sie zu nachdenklich. In ein Handtuch gewickelt ging Catherine zu ihrem Kleiderschrank und suchte nach frischen Sachen zum Schlafen. An der Woodham war ihnen nur eine bestimmte Menge an Kleidung erlaubt, die durch die doch relativ geringe Größe des Schrankes limitiert war. Ihr Schrank platzte daher aus allen Nähten. Unten in einer Ecke entdeckte sie plötzlich die verschmutzten Klamotten, die sie in der Nacht, in der Carrie starb getragen hatte. Zunächst hatte sie sie nur versteckt und völlig vergessen, sie verschwinden zu lassen. Jetzt, da die Polizei schon auf die Sache aufmerksam geworden war, war es wichtiger denn je, alle Beweise an diese Nacht zu vernichten. Sie griff danach und betrachtete ihre Schmutz bedeckte Hose. Normalerweise machte sie sich nicht viel aus Kleidung, da sie sowieso ständig neue kaufte. Doch an diesen Sachen hingen jetzt Erinnerungen und sie den Streifen aus braun und grün sah, der ihr seitliches Hosenbein bedeckte, erinnerte sie sich viel zu bildhaft an den Moment, als Carrie vor ihren Augen plötzlich in der Tiefe verschwand. Als nächstes nahm sie ihre Lederjacke heraus, die zum Glück nicht viel abbekommen hatte. Es war Tommy Hilfiger und es war ihre beste. Dann bemerkte sie, dass sich etwas Schweres in der Tasche der Jacke befand. Sofort griff sie danach und zog ein Handy heraus. Carries Handy. Augenblicklich überkam sie Panik, wenn die Polizei versuchte Carries Handy zu orten und es dann bei ihr fand... Sie war drauf und dran es zu zerstören, als ihr die Fotos einfielen, die sie an dem Abend von Carrie gemacht hatten. In ihrem Magen zog sich alles zusammen. Sie hatte so unter Schock gestanden, dass sie nicht nur ihre Klamotten vergessen hatte, sondern auch, dass sie Carries Handy immer noch hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie das Mädchen geohrfeigt hatte und es tat ihr leid. Sie musste die Bilder sofort löschen, hatte jedoch Angst, sie sich anzusehen. Schließlich waren es die letzten Bilder von Carrie, die sie lebend zeigten. Sie steckte das Handy ein und rannte aus ihrem Zimmer, in das von Victoria und Bonnie. Dort saßen all ihre Freundinnen auf Bonnies Bett und sahen sie an. "Was ist denn mit dir passiert?", fragte Victoria. Catherine schloss die Tür und stürzte auf die anderen zu. "Ich habe Carries Handy in meiner Jacke gefunden. Im Eifer des Gefechts muss ich es wohl eingesteckt haben und habe es völlig vergessen. Was sollen wir denn jetzt machen?", fragte sie und zeigte ihren Freundinnen das Handy. "Oh scheiße!", schimpfte Bonnie. "Was ist, wenn sie das Ding orten?" "Ich wette das haben sie sogar schon getan. Aus irgendeinem Grund haben sie nur nicht gemerkt, dass du es hast.", sagte Victoria. "Ist es eingeschaltet? Ich habe mal gehört, dass das Handy eingeschaltet und im Mobilfunknetz sein muss, damit die Polizei es genau orten kann. Wobei es selbst dann sein kann, dass sie nur den ungefähren Standort herausbekommen. Also sie wissen zum Beispiel, dass es sich im Woodham befindet, aber nicht in welchem Zimmer genau.", erklärte Anne. Catherine überprüfte das Handy, es war tatsächlich aus. "Wahrscheinlich ist der Akku inzwischen leer.", sagte sie. "Das ist gut. Sie haben schon Carries Sachen durchsucht, wahrscheinlich wussten sie da auch, dass ihr Handy hier irgendwo sein muss. Um unsere Sachen zu durchwühlen brauchen sie allerdings einen extra Beschluss und einen konkreten Verdacht. Wir sollten es also so schnell wie möglich verschwinden lassen.", sagte Riley. "Das geht nicht! Wir haben an dem Abend doch Fotos von Carrie gemacht, wenn sie das Handy doch irgendwann finden und die Bilder darauf entdeckt, sind wir geliefert.", widersprach Catherine. "Dann sollten wir es aufladen und die Bilder löschen. Die Speicherkarte zerstören wir am besten und dann zerstören wir das Handy und entsorgen es morgen in einem öffentlichen Mülleimer weit weg von der Woodham.", sagte Anne. "Das ist eine gute Idee.", stimmte Bonnie ihr zu, stand auf und holte ein Ladekabel aus ihrem Nachtschränkchen. Sie schloss das Handy an und sie warteten einen Moment, bis es etwas geladen hatte. "Zum Glück ist dir das noch aufgefallen. An ihr Handy habe ich überhaupt nicht gedacht.", sagte Riley, als Bonnie versuchte, das Handy zu starten. "Verdammt, wir brauchen natürlich ihren PIN.", schimpfte sie und begann, wahllos ein paar Zahlen einzutippen. "Den knacken wir nie. Riley, du musst in eurem Zimmer nachsehen, ob sie irgendwelche Unterlagen hat, in denen der PIN drin stehen könnte.", sagte Catherine. "Die Polizei hat ihren Teil des Zimmers mit Flatterband abgesperrt und mir ausdrücklich verboten, ihre Sachen anzufassen. Was ist, wenn sie merken, dass ich in ihrem Zeug gewühlt habe? Außerdem ist es nicht mal sicher, dass sie den PIN hier irgendwo aufgeschrieben hat. Sie könnte ihn genau so gut auswendig gekannt haben und ihre ganzen Unterlagen bei ihren Eltern haben.", sagte Riley und verschränkte die Arme. "Dann zerstören wir die Karte eben einfach so. Damit sind die Bilder doch auch weg oder?", fragte Victoria. "Ich denke schon, außerdem ist das unsere beste Möglichkeit. Ich will das Ding so schnell wie möglich loswerden. Am besten heute noch.", sagte Catherine. "Willst du dich raus schleichen?", fragte Bonnie. "Ich kann doch heute Nacht nicht seelenruhig schlafen und morgen zum Unterricht gehen, wenn vielleicht in genau diesem Moment mit irgendwelchen Tricks das Handy bei mir gefunden wird.", erwiderte Catherine verzweifelt. Solange sie das Handy hatte, hatte sie keine ruhige Minute. "Na schön, mach es aus.", sagte Riley zu Bonnie. "Gib mir die Speicherkarte und ich schneide sie durch. Dann bringe ich sie heute Nacht zu einem öffentlichen Mülleimer und du tust das Gleiche mit dem Handy." Sie nickte Catherine zu. Bonnie gab ihr die Speicherkarte aus dem Handy und Riley ging damit zum Schreibtisch und schnitt sie mit einer Schere in der Mitte durch. Dann kratzte sie mit der Spitzte der Schere auf den einzelnen Teilen herum. "So, ich denke die kann keiner mehr lesen. Außerdem können sie sie nicht finden, weil wir sie woanders hinbringen als das Handy.", sagte sie. "Wollt ihr allein gehen?", fraget Anne. "Die Gefahr ist zu groß, dass wir Aufmerksamkeit erwecken, wenn wir alle gehen. Ich weiß schon, wo ich die Karte entsorgen werde. Catherine, du musst zusehen, dass du das Handy woanders hinbringst.", antwortete Riley und Catherine nickte. Am liebsten würde sie das dumme Ding Kilometer weit weg entsorgen, jedoch wusste sie, dass sie einen Ort brauchte, den sie schnell zu Fuß erreichen konnte.
Als es dunkel war, machten sich die beiden Mädchen auf den Weg. Sie schlichen zusammen durch die Hintertür, deren Schlüssel sie besaßen und trennten sich dann kurz hinter dem Schulgelände. "Viel Glück und beeil dich.", sagte Riley und verschwand in die Dunkelheit des Waldes. Catherine beeilte sich, um zu einem Spielplatz in der Nähe zu kommen, auf dem sie das Handy entsorgen wollte. Auf einmal kam es ihr hier draußen im Dunkeln viel unheimlicher vor als sonst, wenn sich die Freundinnen heimlich raus geschlichen hatten. Sie rannte viel mehr als das sie ging und sah sich ständig um. Zum Glück kam ihr kein einziges Auto und keine anderen Menschen entgegen. Endlich erreichte sie den leeren Spielplatz und holte Carries Handy aus ihrer Tasche. Sie warf es auf den Boden und trat mit dem Absatz ihres Stiefels darauf, dann sprang sie mit ihrem gesamten gesamten Gewicht drauf, wobei sich der Absatz tief in das Display bohrte. Vorher hatte sie das Handy selbstverständlich wieder ausgeschaltet. Der Spielplatz lag verlassen da und in der Dunkelheit war nur die Hälfte von ihm zu erkennen. Wind raschelte in den Blättern der Bäume, doch sonst war es totenstill. Catherine atmete tief ein, erleichtert darüber, dass nun alle Beweise, die es gegen sie gab, vernichtet waren und trotzdem versuchte sie sich vorzustellen, wie die Bilder aussehen mochten, die Carrie in der letzten Stunde ihres Lebens zeigten. Kopfschüttelnd verwarf sie den Gedanken und beförderte das zerstörte Handy in den Mülleimer. Der würde sicherlich in ein paar Tagen geleert werden und dann würde es für immer weg sein. Wo auch immer Carrie war, wer auch immer sie aus dem feuchten Keller mitgenommen hatte, das würde nun nicht mehr ihre Sorge sein. Ein kalter Wind wehte über das offene Gelände und ließ die Schaukeln in ihren Aufhängungen quietschen. Das Geräusch ließ Catherine einen Schauer über den Rücken laufen. Sie glaubte kurz Schritte gehört zu haben, doch sagte sich dann, dass es Einbildung sein müsse und lief so schnell sie konnte zurück zur Woodham. Freiwillig wollte sie keine Sekunde länger an diesem Ort bleiben. Es war geschafft.
In der folgenden Nacht schlief Catherine gut, zumindest hatte sie den ruhigsten Schlaf seit der Unfall passiert war. Sie hörten an dem Tag nichts Neues über das Verschwinden von Carrie, was ihnen allen ganz recht war. Es genügte schon, dass in der Schule jeder darüber sprach. Riley hatte die Überreste der Speicherkarte in einem Waldstück vergraben, da sie diese ja ohnehin nicht orten konnten. Die Witterung würde dann in vielen vielen Jahren nichts mehr von ihr übrig lassen. Ein normaler Alltag war natürlich nicht möglich, ihnen steckte immer noch Carries Tod und das mysteriöse Verschwinden ihrer Leiche in den Knochen. Jedoch mussten sie sich bemühen, den Anschein ihres perfekten Lebens zu wahren. Jeder wusste, dass sie Carrie nicht gemocht hatten, da durften sie nun nicht allzu sehr trauern. Fast glaubte Catherine selbst daran, dass sie in ihr normales Leben zurück kehren konnten und den Vorfall irgendwann vergessen würden. Doch die große Überraschung kam am Samstag.
![](https://img.wattpad.com/cover/209882976-288-k368597.jpg)
DU LIEST GERADE
Der schöne Schein
HorrorDie fünf Freundinnen Victoria, Catherine, Anne, Bonnie und Riley haben das Privileg, auf Englands beste Privatschule für Mädchen gehen zu dürfen: die Woodham School. Im letzten Schuljahr nimmt die Schule zum ersten Mal Stipendiatin auf, die siebzehn...