-Riley-
Montagmorgen. Um Punkt 6:30 Uhr klingelt der Wecker in 70 Zimmern gleichzeitig und 140 verschlafene Mädchen kämpfen sich aus dem Bett. So ging es jede Woche, die erste Woche nach den Ferien war jedoch die härteste. Gähnend rieb Riley sich die Augen und setzte sich an die Bettkante. Ihr Blick fiel auf das Bett ihrer Zimmergenossin, doch Carries Bett war bereits leer. Verwirrt sah sie sich im Zimmer um und entdeckte das kleingewachsene Mädchen mit den braunen langen Haaren vor dem Spiegel, wie es sich diese zu zwei dicken Zöpfen flocht. "Oh man, bist du aus dem Bett gefallen?", sagte Riley und streckte sich ausgiebig. "Ich bin Frühaufsteherin.", sagte Carrie ohne sie anzusehen. Sie trug bereits ihre Schuluniform; einen knielangen mitternachtsblauen Rock, eine weiße Bluse (ein Knopf war oben geöffnet), graue Kniestrümpfe und ebenfalls mitternachtsblaue Budapester. Das graue Jacket hatte sie sich über die Schulter gelegt, dafür würde es ohnehin noch viel zu warm sein. "Du scheinst diese Klamotten ja echt zu lieben.", sagte Riley neckisch und stand auf, um ins Bad zu gehen. "Für mich es ein Privileg sie tragen zu dürfen. Außerdem gibt es wenn ich sie trage keine Unterschiede zwischen allen anderen und mir, wenn alle das Gleiche tragen, sieht niemand besser oder schlechter aus als andere, wir sind also alle gleich.", sagte Carrie und knotete ein Haargummi unten in ihren Zopf. Riley trat nochmal einen Schritt aus dem Bad zurück und sah sie einen Moment lang intensiv an. "Der Unterschied zwischen allen anderen und dir liegt darin, dass wir privilegiert sind und du einfach nur Glück hattest, an diese Schule zu kommen. Wir sind nicht gleich, Carrie.", sagte sie ernst und ging dann ins Bad, wo sie die Tür hinter sich schloss.
Als Erstes stand an diesem Morgen Geschichte auf dem Stundenplan, was bedeutete, dass sie nun 60 Minuten lang einem Mann zuhören mussten, der so alt war, dass er das meiste von dem, was er dort erzählte, vermutlich selbst miterlebt hatte. Mr. Jones war ein direkter Nachfahre des Gründers von Woodham und zudem der Cousin, des Schulträgers, Mr. Carl Woodham. Riley war keine große Freundin von Geschichte, sie interessierte sich eher für Kunst und Musik, konnte ausgezeichnet malen und spielte Klavier, Cello und Geige. Ihre Mutter war eine weltweit erfolgreiche Pianistin und ihr Vater war Bassist. Musik war das, was sie ihr ganzes Leben lang begleitet hatte und was sie sich auch beruflich vorstellen konnte. An der Woodham School lagen die Schwerpunkte zwar auf Naturwissenschaften, jedoch wurde jeder Bereich intensiv gefördert, wenn ein Schüler eine dahingehende Begabung hatte. So gab es zudem ein bestens ausgestattetes Musikzimmer und einen Kunstraum mit Leinwänden und Staffeleien, den die Schülerinnen frei nutzen konnten. Für die sportlich begabten unter ihnen, so wie Catherine es war, gab es eine Schwimmhalle, eine Laufstrecke, einen Cricketplatz und im Keller einen Fitnessraum mit Gewichten und Ergometern.
Nach Geschichte standen Mathematik, Englisch und Kunst auf dem Stundenplan, dann gab es eine Mittagspause, in der sie in der Kantine essen konnten; und dann folgten Politik und Biologie. Nach dem Unterricht hatten die Mädchen eine halbe Stunde Freizeit, woraufhin zwei Stunden für Hausaufgaben und Lernen folgten. Nach dem Abendessen durften sich alle entweder in den Gemeinschaftsräumen oder ihren Zimmern aufhalten, ab 20 Uhr herrschte Ausgangssperre. Davon ausgeschlossen waren nur die, die sich der Laufgruppe angeschlossen hatten, die jeden Montag Abend trainierte. Eigentlich gehörte auch Catherine dieser Gruppe an, jedoch ließ sie sie am heutigen Abend mit der erfundenen Entschuldigung, sie habe Kopfschmerzen, sausen. Carrie war nicht auf ihrem Zimmer, als Riley um kurz vor acht aus dem Gemeinschaftsraum zurückkehrte. Eine Sorge weniger, dachte sie nur, da ihr egal war, wo Carrie sich herumtrieb. Vermutlich würde sie irgendwo allein sitzen und lesen oder so. Sie zog ihre Jeansjacke und ihre Wildlederstiefel an, das Handy ließ sie in der Tasche, vielleicht hatten sie außerhalb des Schulgeländes ja Empfang. Sie wollte gerade gehen, als sie einen Zettel fand, der neben Carries Bett auf dem Boden lag. Es war ein Brief von ihren Eltern und es wirkte, als hätte sie ihn beim Lesen so fest gehalten, dass er an den Seiten zerknittert war. Kurz ließ Riley den Brief sinken und dachte, dass es falsch sei in Carries Privatangelegenheiten zu schnüffeln und dass sie ihn einfach auf ihr Bett legen sollte. Andererseits hatte sie ihn hier offen liegen gelassen, also konnte es schon nichts so Privates sein, oder? Hastig überflog sie den Brief, die Ohren dabei zum Lauschen gespitzt, falls sich jemand der Zimmertür näherte. In dem Brief hieß es zunächst, dass Carries Eltern es ihr lieber persönlich gesagt hätten, dass ihr Vater bei der Arbeit jedoch kein frei bekommen hätte und sie die weite Reise deshalb nicht antreten konnten. Sie seien sich nicht sicher, inwieweit Carrie ihr Handy benutzen dürfe, deshalb baten sie darum, dass sie sie anrief, sobald sie den Brief bekam. Ihre Großmutter war an einem Herzinfarkt gestorben und es klang, als sei dieser ziemlich überraschend gekommen. Riley legte den Brief sofort wieder weg und schämte sich, ihn gelesen zu haben. Auch wenn sie Carrie nicht mochte, wenn sie und ihre Freundinnen sie im letzten halben Jahr ständig mit fiesen Sprüchen geärgert hatten, fragte sie sich in diesem Moment wo Carrie wohl war. Sicherlich war sie weggegangen um zu telefonieren, sie hatte es nicht tun wollen, während jeden Moment jemand ins Zimmer hätte kommen können. So wenig sie auch an diese Schule passte, dass ihre Großmutter starb hatte sie nicht verdient, erst recht nicht, wo sie jetzt so weit weg von Zuhause war. Riley versuchte, den Brief wieder so hinzulegen wie sie ihn vorgefunden hatte und machte sich dann auf den Weg. Während sie durch den Flur lief, versuchte sie die Gedanken an Carries Großmutter und dass sie das nun wusste, obwohl es ihr nicht zustand, zu verdrängen. Es gab einen geheimen Weg aus dem Internat heraus, den sie vor zwei Jahren entdeckt hatten. Es war eine schmale Seitentür, zu der Bonnie damals zufällig den Schlüssel gefunden hatte, der dem Hausmeister wohl aus der Tasche gerutscht war. Es war auch nicht gerade klug von ihm gewesen, einfach einen neuen anfertigen zu lassen, ohne das Schloss auszutauschen. Vorsichtig sah Riley sich um, als sie aus der Tür trat, immerhin war es noch hell draußen. Doch niemand war mehr zu sehen und sie rannte schnell über das kurze Stück Wiese zu der Mauer, die das Gelände umgab. Sie war nicht besonders hoch, weshalb sie ohne Probleme darüber klettern konnte. Hinter der Mauer lag direkt der Wald und wenn man weiter ging, kam man irgendwann zu einem See. Sie hatten beschlossen, dass jeder einzeln zu dem Treffpunkt kommen sollte, damit sie nicht so viel Aufmerksamkeit erregten. Als Riley dort eintraf, es war ein alter Holzunterstand, der ihnen bei regnerischem Wetter keinen so guten Unterschlupf geboten hätte, waren Anne, Bonnie und Victoria schon da. "Hey Leute, wo bleibt Catherine?", fragte sie etwas außer Atem. Da sie den Brief noch gelesen hatte, hatte sie schon gedacht, dass sie die Letzte sei. "Ich hoffe nur, sie wurde nicht erwischt.", sagte Victoria und setzte sich auf einen alten Metalleimer. Der Holzunterstand lag etwa 300 Meter vom Gelände des Woodham entfernt und war schon lange verlassen. Es war ein schöner warmer Sommerabend, an dem man die Grillen überall zirpen hörte. Eine Weile lang sagte keiner etwas, dann näherten sich Schritte, auf dem knisternden Waldboden. Die Schritte kamen näher und Catherine steckte ihren rothaarigen Kopf durch die Tür. "Sorry dass ich so spät bin, aber ich musste doch noch das Zeug ausbuddeln.", sagte sie und schwenkte eine kleine durchsichtige Tüte mit grünem Inhalt hin und her. "Dass du dir überhaupt merken konntest, wo du es versteckt hast.", sagte Anne und betrachtete neugierig das Tütchen. "Habe einen dicken Stein darauf gelegt und mir die Position ungefähr gemerkt. Ich hatte viel mehr Angst dass irgendein Hund das Zeug ausgräbt oder so.", erwiderte Catherine und setzte sich zu der Runde und ein Stück von einem abgesägten Baumstumpf. "Wenn wir davon was übrig haben, backen wir damit Kekse und geben sie Carrie. Oder Mrs. Dunkin.", scherzte Bonnie und alle lachten, auch Riley, obwohl sie das im Moment nur halbwegs lustig fand. Catherine legte ein kleines Tuch auf den Boden und breitete darauf alles aus, was man benötigte, um einen Joint zu drehen. Als sie das Marihuana mit etwas Tabak vermischte und diese Mischung dann in ein Blättchen eindrehte, sah man, dass sie das nicht zum ersten Mal machte. Sie drehte einen Joint für jede von ihnen und reichte sie ihnen. Dann holte sie ein Feuerzeug aus ihrer Hosentasche und zündete ihren an. "Auf das beste Jahr unseres Lebens. Das letzte gemeinsame.", sagte sie und nahm einen tiefen Zug. Das Feuerzeug machte die Runde und nach und nach erfüllte ein intensiver Geruch den Unterstand. Anne begann sofort stark zu husten und ihr Gesicht errötete sogar unter ihrer dunklen Haut. Es war nicht das erste Mal, dass Riley rauchte, der Geschmack war jedoch gewöhnungsbedürftig. Nach ein paar Zügen wurde ihr noch wärmer und sie zog ihre Jeansjacke aus und band sie sich um die Hüfte. "Woher hast du das Zeug eigentlich?", fragte Victoria und zog genüsslich am letzten Stummel ihres Joints. "Von Leo.", sagte Catherine schmunzelnd. Die Mädchen sahen sich an. "Wer ist bitte Leo? Haben wir was verpasst?", fragte Bonnie. Keine von ihnen hatte einen festen Freund, es war ja auch schwierig, Jungs kennen zu lernen, wenn man auf eine Mädchenschule ging. "Ihr kennt doch die Jungenschule hier in der Nähe oder? Er geht dorthin und hat übrigens auch ein paar sehr nette Freunde.", sagte Catherine und zwinkerte ihnen zu. Sie lebte nur 20 Kilometer von der Woodham entfernt und in ungefähr 10 Kilometern gab es eine Privatschule für Jungen. Natürlich nicht so renommiert wie die Woodham, aber auch nicht von schlechten Eltern. "Und seit ihr..?", fragte Riley. "Nein, das ist nichts Ernstes. Ein bisschen Spaß, verstehst du?", sagte Catherine und drückte ihren Joint auf dem erdigen Boden aus. "Aber was ist mit euch? Gibt es da niemanden?"
„Bei mir nicht, in New York wollte ich auch niemanden näher kennenlernen, wäre doch blöd auf die Distanz.", sagte Victoria. "Viellicht verlieben wir uns ja dieses Jahr, du kannst uns ja mal die netten Freunde von deinem Leo vorstellen.", flötete Bonnie. "Er ist zwar nicht mein Leo aber ja, das kann ich mal machen.", sagte Catherine spitz und holte ein paar neue Blättchen aus ihrer Tasche. "Lust auf eine zweite Runde?" Bei der zweiten Runde wurde das wohlige Gefühl in Rileys Inneren noch stärker, sie alle mussten nun extrem nach Marihuana riechen und die Klamotten die sie trugen, sollten sie am besten heimlich waschen. Plötzlich hörten sie erneut Schritte, es war definitiv jemand in der Nähe. "Ausmachen.", flüsterte Catherine und alle hielten einen Moment inne. Die Schritte näherten sich nicht wirklich, es war, als würde jemand um den Unterstand herumschleichen. "Ich gehe nachsehen.", flüsterte Bonnie entschlossen und deutete nach draußen. Inzwischen dämmerte es schon stark und man konnte nicht mehr gut sehen. Vorsichtig tatstete sie sich nach draußen und blieb in der Tür stehen, um sich umzusehen. Sie zeigte keine Reaktion und trat dann nach draußen, wo sie um den alten Holzschuppen herumging. Die anderen Mädchen wechselten ein paar Blicke, dann standen sie auf und folgten ihr. "Na wen haben wir denn da?", hörten sie Bonnie plötzlich laut und bestimmt sagen. Verwirrt folgten sie ihrer Stimme und da stand Bonnie mit verschränkten Armen, vor ihr stand Carrie. "Die liebe süße Stipendiatin umgeht die Ausgangssperre und schleicht draußen rum? Das sieht dir aber gar nicht ähnlich, wo du den Lehrern doch sonst so gerne in den Arsch kriechst." Sie versammelten sich neben Bonnie und standen dem zierlichen Mädchen nun zu fünft gegenüber, die sie mit großen Augen ansah. "Sie hat uns beobachtet!", fauchte Catherine. Wenn Carrie wusste, was sie hier getan hätten, brauchte sie nur zur Aufsicht gehen und sie würden alle von der Schule fliegen. Sie würden sofort einen Drogentest machen lassen und dann war es das mit ihrer Zukunft. "Ich wollte euch nicht beobachten, ich bin zufällig hier langgekommen.", versuchte Carrie sich zu erklären. Riley wusste, dass sie draußen gewesen war um mit ihren Eltern zu telefonieren, doch sie hätte in der Zwischenzeit schon längst wieder auf dem Zimmer gewesen sein können, gemerkt haben, dass der Brief anders da lag und ihnen gefolgt sein. "Das glaubst du doch wohl selber nicht. Läufst du öfter Abends allein hier in der Gegend rum? Ziemlich großer Zufall wenn du mich fragst.", sagte Bonnie und funkelte sie aus ihren grünen Augen wütend an. "Ich wette, sie ist einer von uns gefolgt, vielleicht hat sie uns ja sogar heimlich aufgenommen.", sagte Victoria und deutete auf das Handy, das vorne in dem Jacket von Carries Schuluniform steckte, die sie den ganzen Tag über trug. "Das stimmt nicht!", protestierte diese und trat nun mutig einen Schritt auf die anderen zu. "Zeig doch mal her.", sagte nun auch Riley. Wenn sie sie wirklich nicht gefilmt hatte, konnte sie ihnen schließlich auch ihr Handyarchiv zeigen. "Nein.", verweigerte Carrie und machte wieder einen Schritt zurück. "Auf einmal so vorlaut? Haltet sie fest!", sagte Catherine und Anne und Victoria stürzten auf sie zu und packten sie an je einem Arm, sodass sie sich nicht wehren konnte. "Lasst mich los! ich war wirklich nur spazieren!", fauchte Carrie und wand sich mit dem ganzen Körper, konnte sich jedoch nicht aus ihrem Griff befreien. Riley preschte nach vorn und zog ihr das Handy aus der Tasche. Sie hielt ihr es an den Daumen und entsperrte es. "Fingerabdrucksensor ist doch wirklich eine tolle Erfindung.", sagte sie zufrieden und durchstöberte das Handy. "Kaum zu glauben dass deine Eltern sich so ein modernes Gerät überhaupt leisten können, so als gewöhnlicher Angestellter verdient man doch nicht so viel oder?", sagte Catherine provozierend. Carrie funkelte sie jedoch nur böse an, man merkte, dass sie versuchte, nicht zu weinen. "Hier ist nichts drauf.", sagte Riley. "Nur langweiliges Zeug." Sie ging wieder auf Carrie zu und hielt ihr das Handy direkt ins Gesicht. "Machen wir doch mal ein schönes Foto von dir, bitte Lächeln."Die Mädchen lachten und Carrie kniff die Augen zusammen, als der helle Blitz der Handykamera in ihr Gesicht leuchtete wie das Fernlicht eines Autos, welches geradewegs auf ein Reh zufuhr. "Auch wenn sie uns nicht gefilmt hat, hat sie uns gesehen. Sie kann uns trotzdem verpetzen und dann sind wir dran.", sagte Anne besorgt. "Wenn ihr mich nicht endlich in Ruhe lasst, werde ich das auch! Ihr dummen Schlampen hättet es jedenfalls verdient!", keifte Carrie nun und versuchte heftig, ihre Arme loszureißen. Ein lauter heller Knall fuhr mitten durch den Wald, gefolgt von unendlicher Stille. Catherine hatte ihr mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen, sodass sie in sich zusammensank und ihr unwillkürlich die Tränen kamen. Die Mädchen starrten sie entsetzt an. "Pass auf, was du sagst.", sagte sie mit bebender Stimme. Einen Augenblick lang kniete Carrie nur gekrümmt da und nutzte die Überraschung der anderen. Plötzlich riss sie ihren rechten Arm aus Annes Umklammerung und boxte Victoria damit direkt gegen die Rippen, sodass diese aufschrie und sie vor Schreck losließ. Carrie ergriff ihre Chance und rannte davon. "Packen wir sie!", keifte Catherine und rannte hinter ihr her, sofort gefolgt von Riley. Auch Bonnie war direkt hinter ihnen und dann kamen Anne und Victoria, die sich offenbar schnell von ihrem Schmerz erholt hatte. "Wir werden dir schon beibringen, deine Klappe zu halten!", schrie Bonnie Carrie hinterher. Es war ziemlich dunkel und sie mussten aufpassen, dass sie nicht stolperten. Das Mädchen war schnell, doch trotzdem hatte Riley sie die ganze Zeit im Blick, während sie vor ihnen davonrannte. Bäume und Sträucher schienen rechts und links an ihnen vorbeizufliegen, es wäre hilfreicher gewesen, nicht high zu sein. Carrie bog plötzlich scharf nach links ab, doch Catherine konnte ihrem Impuls sofort folgen. Die anderen fielen etwas zurück, waren ihr aber trotzdem noch dicht auf den Fersen. Riley schliff mit dem Arm an etwas Scharfem entlang, vermutlich hatte sie einen Dornenbusch gestreift. Vermutlich war diese blöde Kuh jetzt auch noch daran Schuld, dass ihre neue Bluse von Burberry kaputt war. "Bleib stehen! Du hast sowieso keine Chance gegen uns!", keuchte Victoria von hinten. Wieder bog Carrie scharf ab, doch dieses Mal rutschte sie fast mit dem Fuß weg, sodass sie sie einholten. Dann ging alles ganz schnell. Gerade noch sahen sie Carries lange braune Zöpfe vor ihnen durch den Wald fliegen und im nächsten Augenblick war sie verschwunden. Es sah aus, als hätte sie sich einfach unsichtbar gemacht. "Stopp!", hörten sie Catherine so panisch schreien, dass jede von ihnen eine Vollbremsung hinlegte. Catherine selbst stürzte zu Boden und hielt sich an einer Wurzel fest, an der sie sich zurückzog. Erst jetzt sah Riley, was passiert war. Direkt vor ihnen befand sich ein steiler Abhang, der in einen rund 20 Meter tiefen Abgrund führte. Carrie war diesen Abhang gerade hinuntergestürzt oder besser gesagt - sie war hinuntergerannt. Eine gefühlte Stunde sagte keiner von ihnen etwas, man hörte nur Keuchen und auch Catherine blieb erstarrt am Boden liegen. Langsam näherte Riley sich dem Abhang und wagte es, hinunter zu sehen. Es ging dort in gerade Linie abwärts, an dieser Stelle wurde früher Sand für Bauarbeiten abgebaut. Es war schrecklich dunkel, doch sie konnte Carries Körper ganz deutlich unten in der Grube liegen sehen. Sie bewegte sich nicht und ihre Beine standen merkwürdig von ihrem Körper ab. "Nein..", japste Victoria und kam ebenfalls auf den Abhang zu. Auch Catherine stand nun auf und sah hinunter. Carrie war in ihrer Panik blind durch die Dunkelheit gerannt und somit auch ungebremst auf diese Schlucht zu. Das konnte sie nicht überlebt haben. "Ist sie..?", stammelte Catherine mit heiserer Stimme. "Wir müssen zu ihr und nachsehen. Vielleicht ist sie verletzt und wir müssen ihr helfen.", sagte Anne und zerrte an ihnen. "Bonnie legte ihr die Hand auf den Arm und sagte ohne eine von ihnen anzusehen: "Was ist wenn sie tot ist?" Keiner antwortete. Wieder herrschte eine gefühlte Ewigkeit Schweigen. "Wir müssen nachsehen.", sagte Riley schließlich und schluckte. Ihre Lungen brannten von dem Rauch und der darauffolgenden Anstrengung und sie hatte das Gefühl, dass sich ihr der Magen umdrehte. Catherine nickte und ging voran. Sie mussten um die Schlucht herumlaufen, da es an der anderen Seite eine Art Rampe gab, die runter ins Tal führte und auf der früher die LKW gefahren sind. Riley spürte, wie ihre Beine zitterten, als sei sie gerade einen Marathon gelaufen. Ohne etwas zu sagen liefen sie eilig hintereinander her, nicht rennend, aber schnell. Während sie um die Schlucht herumliefen wurde es immer dunkler, die üppig bewachsenen Baumkronen taten ihr Übriges dazu. Am liebsten wären sie zu der Unglücksstelle geflogen, jede Minute die verging, konnte entscheidend sein. "Hauptsache wir finden sie hier schnell.", sagte Victoria unten angekommen, während sie versuchten, durch die Dunkelheit zu spähen. In der Schlucht standen zum Glück nur spärliche Sträucher und junge kleine Bäume, sodass immerhin noch etwas Licht zu ihnen durchdrang. "Da vorne!", rief Riley und zeigte auf den leblosen Körper, der noch immer verdreht auf der Erde lag. Sie stürzten darauf zu und knieten neben Carrie nieder. Sie lag auf der Seite, weshalb Catherine zunächst vorsichtig an ihrer Schulter rüttelte. "Carrie..?", sagte sie heiser. Keine Reaktion. Sie rüttelte fester und wiederholte ihren Namen etwas lauter, doch Carrie bewegte sich nicht. Sie drehte das Mädchen auf den Rücken, an ihrem Gesicht klebte Erde und sie hatte überall Kratzer. Ihre Augen waren geschlossen, es sah aus, als würde sie schlafen. Wie in Zeitlupe beugte Catherine sich über sie, um ihren Atem zu hören. "Sie atmet nicht.", sagte sie und Tränen stiegen ihr in die Augen. Mit zitternder Hand legte Bonnie zwei Finger an ihren Hals, sie waren alle ganz still. Anne hatte beide Hände vor den Mund gepresst und Victoria krallte sich an Rileys Arm fest, so stark, dass er am nächsten Tag vermutlich blau sein würde. "K-kein Puls." Bonnie schluckte. "Sie ist eiskalt." Anne stieß einen gequälten Laut aus und auch Catherine wich ein Stück von Carrie zurück. "Was machen wir jetzt? Rufen wir einen Arzt? Wir müssen sie reanimieren!", rief Anne panisch und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. "Sie ist schon ganz kalt, Anne. Ein Rettungshubschrauber käme viel zu spät, wir sind schon zu spät!" Bonnie schrie sie fast an. "W-wir haben sie umgebracht.", stammelte Catherine. Riley riss sich von Victoria los und legte selbst Zeige- und Mittelfinger an Carries Hals. Es war kein Puls zu fühlen. Zur Sicherheit versuchte sie es noch einmal an ihrem Handgelenk, doch auch dort tat sich nichts. Ihre Haut war vollkommen kalt, wie Bonnie gesagt hatte. "Sie ist definitiv tot.", sagte sie und holte tief Luft. Tränen begannen, ihr über das Gesicht zu laufen und sie starrte das blasse Gesicht von Carrie an. Das war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie eine Leiche sah. "Was sollen wir denn jetzt tun?", weinte Victoria. "Wir müssen Hilfe holen... Oh mein Gott... Jetzt kommen wir bestimmt alle ins Gefängnis.", murmelte Riley verzweifelt und kaute an ihren Nägeln herum. "Es war ein Unfall.", sagte Bonnie bestimmt und sah sie mit feuchten Augen ernst an. "Sie ist gestürzt, wir wussten nicht, dass hier diese Klippe ist." Die Mädchen sahen sie hilflos an. "Wir müssen die Polizei rufen und ihnen sagen, dass es ein Unfall war. Wir konnten ihr nicht rechtzeitig zur Hilfe eilen. Vermutlich war sie sofort tot.", japste Anne. "Und was sollen wir denen sagen? Wie sollen wir erklären dass wir alle nach der Ausgangsperre hier draußen waren und warum wir sie durch den Wald gejagt haben? Damit machen wir uns doch sofort verdächtig!", jammerte Bonnie. "Sie hat Recht, die werden sofort merken, dass wir Drogen genommen haben und uns dann gar nichts mehr glauben. Auch wenn es nur Marihuana war, wofür wir allein schon von der Schule fliegen würden und eine Anzeige bekämen, würden sie denken dass wir nicht zurechnungsfähig sind und an unserer Geschichte zweifeln. Sie werden Nachforschungen anstellen und wissen, dass wir keine Freunde von Carrie sind.", sagte Catherine und sah sie alle der Reihe nach an. "Damit hätten wir ein Motiv. Wir haben sie monatelang gemobbt, die denken doch wir haben das mit Absicht gemacht!", weinte Riley. "Aber das war doch nur Spaß!", rief Victoria verzweifelt. "Die Polizei wird das anders sehen.", meinte Catherine. "Scheiße!", fluchte Bonnie und stand auf. Jedes der Mädchen zitterte am ganzen Körper, während sie auf die tote Carrie starrten. "Was haben wir nur getan..?", murmelte Victoria mehr zu sich selbst als zu den anderen. "Wir müssen uns jetzt entscheiden.", sagte Catherine schließlich bestimmt. "Wir können entweder alles sagen und mit den Folgen leben... vielleicht sogar zu Unrecht ins Gefängnis gehen... Oder wir lassen sie verschwinden." Diese Worte trafen ein wie ein Schlag. Die Mädchen sahen ihre Freundin entsetzt an. Verschwinden lassen? Machte einen das nicht erst recht zu einem Mörder? "Jetzt sind unsere Fingerabdrücke an ihr, das sind sie schon, seitdem wir sie oben festgehalten haben. Man riecht definitiv dass wir was geraucht haben und wahrscheinlich merkt man es uns auch an. Selbst wenn wir anonym die Polizei verständigen, wird man auf uns zurückkommen.", sagte Bonnie. "Aber wir können sie doch nicht einfach hier irgendwo vergraben? Die werden nach ihr suchen!", protestierte Anne. Sie fuhr sich zum hundertsten Mal durch die schwarzen Haare, die schon vollkommen zerfetzt aussahen. "Was wäre die Alternative? Denk dran, was für uns alles auf dem Spiel steht, das hier könnte dein Leben ruinieren. Dann können wir genau so gut wieder hoch gehen und gleich hinterher springen.", sagte Bonnie. "Jetzt werd' nicht verrückt!", schimpfte Riley. "Aber es stimmt. Dann war es das mit dem unbeschwerten Leben, wir werden von der Woodham fliegen und an keiner Eliteuniversität dieser Welt je aufgenommen werden. Für den Fall dass wir nicht ins Gefängnis kommen, wäre unser Leben also komplett ruiniert. Dann waren die ganzen letzten Jahre harten Lernens umsonst.", sagte Catherine zu Boden schauend. Kurze Zeit sagte keiner etwas. "Also verstecken wir sie?", fragte Riley schließlich vorsichtig. Es war ein Unfall, sagte sie in Gedanken zu sich selbst. Die anderen Mädchen sahen sie an und nickten. "Also dann, wie machen wir das?"
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Der schöne Schein
HororDie fünf Freundinnen Victoria, Catherine, Anne, Bonnie und Riley haben das Privileg, auf Englands beste Privatschule für Mädchen gehen zu dürfen: die Woodham School. Im letzten Schuljahr nimmt die Schule zum ersten Mal Stipendiatin auf, die siebzehn...