Kapitel 1 - Das Erbe meiner Großeltern

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Ich stand im Vorgarten des alten Hauses und sah mich um. Meine Hände spielten nervös mit den Kordeln meiner Kapuze, während ich die steifen Muskeln meiner Beine nach dem langen Flug und der noch längeren Autofahrt dehnte. Der kühle, salzige Wind, der vom Pazifik her wehte, ließ die Bäume und Büsche in unserem neuen Garten sanft rascheln. Der Wind brachte einen Geruch von Regen mit sich. Schnell zog ich meine Kapuze enger um mein Gesicht und blickte zu dem grauen Himmel hinauf.

Wir waren nur mit dem Nötigsten gereist und hatten einen Großteil unserer Sachen in Deutschland verkauft, verschenkt oder entsorgt. Meine Eltern hatten entschieden, dass es einfacher wäre, hier in Amerika alles neu zu kaufen, als alles über den Ozean zu transportieren. Das war eine ihrer vielen Entscheidungen in letzter Zeit, die sich für mich so endgültig und unwiderruflich angefühlt hatten.

Meine Mutter, die am Wagen stand und einen der ersten Koffer herauszog, sah erschöpft aus. Ihre Augen waren gerötet und Ihre Bewegungen langsamer als sonst. Seit dem Tod ihrer Eltern war sie irgendwie anders geworden. Als ob sie ein Teil von sich selbst verloren hätte.
Während ich sie betrachtete, fragte ich mich, ob meine Mutter ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Eltern hatte. Nach ihrem Studium war sie nach Deutschland gezogen und hatte dort meinen Vater geheiratet. Seitdem war sie nur ein paar Mal in die USA zurückgekehrt, um ihre Eltern zu besuchen. Es musste schwer für sie sein, jetzt hierher zurückzukehren, in das Haus, in dem sie aufgewachsen war, und zu wissen, dass ihre Eltern nicht mehr da waren. Vielleicht war das der Grund, warum sie beschlossen hatte, hierher zu ziehen. Vielleicht fühlte sie sich schuldig, weil sie so weit weg gewesen war, als ihr Eltern sie am meisten gebraucht hatten.

„Das ist es also.", sagte meine Mutter leise, fast so als ob sie zu sich selbst sprach. „Da gibt es einiges dran zu machen.", fuhr sie fort.
Mein Vater, der gerade das Auto geparkt hatte, kam zu ihr herüber und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.
„Das wird schon, Liebling.", sagte er beruhigend und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Wir werden hier einen Neuanfang haben."

Das Haus vor uns war ein altes, zweistöckiges Gebäude, das seine besten Tage wohl schon hinter sich hatte. Die Fensterläden hingen schief und die Farbe blätterte von den Wänden ab. Doch es hatte eine seltsame, rustikale Schönheit, die mir sofort gefiel. Es war anders als alles was ich aus Deutschland kannte. Mama hatte mir Geschichten erzählt, wie sie als Kind hier Sommer verbracht hatte, von den vielen Abenteuern am Strand und den wilden Spielen im Wald hinter dem Haus. Jetzt konnte ich das alles selbst erleben.

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich mich an unsere kleine Mietwohnung in Deutschland erinnerte. Wir hatten nie viel Geld gehabt und die Zimmer dort waren winzig. Das Haus hier war so viel größer, mit einem richtigen Garten und genug Platz für uns alle. In der Wohnung hatten wir Wände an Wände mit unseren Nachbarn gewohnt, die Geräusche von oben und unten waren immer präsent. Es gab kaum Privatsphäre. Jetzt hatten wir dieses große, alte Haus ganz für uns allein. So sehr ich Deutschland auch vermissen würde, ein Teil von mir freute sich auf das neue Leben, das hier in Amerika auf mich wartete.

„Es ist irgendwie... nett.", sagte ich zögerlich und ging die Stufen zur Veranda hinauf. Ich spürte die alten Holzdielen unter meinen Füßen knarren und musste lächeln. Es fühlte sich an, als ob uns das Haus Willkommen sagen wollte.

„Ich finde es schön.", sagte ich lauter und drehte mich zu meinen Eltern um. Meine Mutter lächelte mir matt zu, aber es war ein Lächeln und das war mehr, als ich die letzten Wochen von ihr gesehen hatte.

„Ich bin froh, dass du so denkst, Clara.", sagte sie. „Es wird uns hier gefallen, da bin ich sicher."
Meine Eltern und ich gingen zusammen die knarrende Treppe zur Veranda hinauf und öffneten die alte Holztür. Als sie aufschwang, kam uns ein leichter Geruch von Staub und Holz entgegen. Das Haus wirkte auf den ersten Blick ein wenig verlassen und müde, aber trotzdem spürte ich eine merkwürdige Aufregung in mir. Wir stellten die Koffer in der kleinen Diele ab und ich sah mich neugierig um.

CaladriusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt