Kapitel 11 - Brudermord

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Sophia folgte ihrem Bruder auf dem Fuße. "Ben! Lass diese Axt los!", schrie sie panisch. Chet trat langsam näher. Vor sich sah er Ben, mit Samechs Axt in der Hand. Das war gut. Das bedeutete, er sah keinen getarnten Samech. Auch die Aura von Ben zeigte keine Auffälligkeiten, sie war menschlich – blass, kaum vorhanden, mickrig. Jämmerlich eigentlich. Aber das war bei allen Menschen so. "Ganz ruhig, Sophia. Samech kann Ben nichts mehr tun. Er ist vorerst so tot, wie ein Seelenjäger nur tot sein kann. Es wird Jahre dauern, bis seine Seele wieder stark genug ist, um einen Menschen zu korrumpieren", beruhigte er die vor Angst um ihren Bruder zitternde Frau. "Aber wenn es dir lieber ist, zerstöre ich sie hier und jetzt." Sophia war sichtlich erleichtert. "Ja, bitte. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dieses... Ding in meiner Nähe zu haben. Oder es überhaupt in der Welt zu lassen."

Melchior hob abwehrend die Hand. "Wenn das sein muss, dann mach das bitte oben. Hier unten ergäbe es einfach nur eine gewaltige Sauerei, die ich hinterher wieder sauber machen muss."

Ohne ein Wort nahm Chet Ben die Axt ab und ging nach oben. Die Axt legte er ordentlich auf den Boden, dann machte er den anderen deutlich, dass sie zurückbleiben sollten.

Chet zog sein Schwert und hielt es senkrecht über das Axtblatt wie ein Richtschwert über den Nacken eines Verurteilten. Dann stieß er zu. Und taucht ein in ein Meer aus Licht.

Eine weite Wiese. Schwarz-weiß. Keine Farben. Blumen zwischen den Gräsern, ihre Blüten weiß, hellgrau, dunkelgrau. In der Mitte der Wiese, ein Junge. Ein kleiner Junge, der im Gras sitzt. Ein friedliches Bild. Der Bewaffnete, der mit gezogenem Schwert am Rand der Wiese steht, zerstört die Idylle. Langsam und gemessenen Schrittes geht Chet mit wehendem Mantel auf den Jungen zu, das Schwert noch gesenkt, die Spitze der Klinge nah über dem Boden schwebend. Wo sie Gras und Blüten abrasiert, verwehen diese zu Asche und wirbeln in der sanften Brise davon.

Das Kind hat ihn noch nicht bemerkt. Es trägt ein weites weißes Hemd, das um die Taille herum gegürtet ist. Eine rote Hose, feucht schimmernd. Als Chet sich ihm nähert, sieht er die offenen Wunden des Jungen. Er blutet, seine Beine sind gebrochen. Direkt hinter ihm bleibt er stehen und hebt erneut sein Schwert. Da dreht sich der Junge um, seine großen Augen sind blau und schwimmen vor Tränen. "Werden Sie mir helfen, Mister?", fragt der kleine Junge. Chet nickt traurig. Da streckt der Junge seine Hand aus. "Ich bin Samech. Wie heißen Sie, Mister?" Chet räuspert sich. "Ich bin Chet. Ich bin hier, damit dein Schmerz aufhört." Der Junge strahlt vor Freude. "Oh, bitte Mister Chet, helfen Sie mir auf! Meine Beine tun so weh, aber ich glaub, wenn Sie mir aufhelfen, kann ich allein stehen." Er lächelt Chet an und streckt seine Hand noch weiter aus.

Chet tritt einen Schritt zurück. Es geht nicht. Er möchte laufen, fliehen, weinen, schreien. Das Kind Samech ist unschuldig. Es ist Samechs Seele in seiner reinsten Form. Er ist nicht böse. Seine Augen sind blau. Chet ist ein Verbrecher. Auch er ist nur in Gestalt seiner Seele anwesend, und die ist genau wie sein äußeres. Fremdartig. Bösartig. Seine Augen sind orange. Er ist ein Verräter.

Aber wenn er dem Jungen aufhilft, dann wird nur der alte Samech wiederauferstehen. Und seine eigene Seele wird verlöschen. Sein t'urbesim zerbersten. Er kann nicht fliehen.

Der Junge sieht ihn voll freudiger Erwartung, mit kindlicher Unschuld in seinem Blick an. Chet wirbelt mit verbissenem Gesicht herum, macht einen schnellen Schritt auf das Kind zu und schlägt ihm mit einem gepeinigten und verzweifelten Aufschrei den Kopf ab.

Die Zeit bleibt stecken. Die graue Wiese wandelt sich zur grauen Einöde. Der harte Boden von Oyerta, seiner Heimat. Ewige Dämmerung. Ewiger Stillstand. Das ist die Vision seiner Artgenossen auch für die Erde. Chet steht vor sich selbst, der andere ist jünger, entspannter, fröhlicher. Samech kommt hinzu. Der junge Chet und Samech umarmen sich zur Begrüßung, lachen, scherzen. Dann zerplatzen er zu einer Wolke aus Rauch. Samechs liebste Erinnerung. Das letzte, was er sieht, sieht auch Chet.

Auch der Boden verschwindet, und Chet steht im Nichts.

Dinge nehmen Gestalt an. Ein Fußboden, aus Holz, Wände, Menschen. Er war zurück. Schluchzend brach der Seelenjäger über den schwelenden Trümmern von Samechs Axt zusammen.

Sophia und Ben blickten betreten drein. Sie verstanden nicht. Aus ihrer Perspektive hatte Chet zugestoßen, und aus der Axt war eine rote Rauchwolke gequollen, die bedrohlich über dem Szenario geschwebt hatte. Dann war mit einem gleißenden Lichtblitz die Axt zerborsten. Die Rauchwolke zerfiel und wurde von Melchiors Konstrukt absorbiert. Und dann ging Chet in die Knie und schluchzte hemmungslos. Schwarze Brandspuren gingen von dem Standpunkt des Seelenjägers sternförmig in alle Richtungen.

Melchior schaute betreten. Er verstand. Samech war Chets bester Freund gewesen. Sie hatten gemeinsam gekämpft, gesiegt, gefeiert. Sie waren Brüder im Geiste gewesen. Dann hatte Samech den Seelenjägern den Rücken gekehrt, nachdem die Alten Meister Vergangenheit waren. Und auch wenn die Freundschaft zerbrochen und durch bitteren Hass ersetzt worden war, konnte kein fühlendes Wesen einen Mord auf diese Weise begehen, ohne zusammenzubrechen.

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