Prolog

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Marie sah auf die Uhr im Klassenzimmer. 10:38 Uhr. 'Noch 22 Minuten, dann hab ich diesen Horror für sechs Wochen hinter mich gebracht' , dachte Marie und blickte zum Fenster hinaus, in Richtung des schönen Waldes. Im Wald, wo sie, bis auf ein paar Hundebesitzer manchmal, komplett für sich war. Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken: "Marie Witt, kommst du jetzt mal dein Zeugnis abholen? Deine Mitschüler wollen nach Hause und die Ferien beginnen. Du doch sicher auch oder?" Ihr Klassenlehrer sah sie mit billigendem Blick an, als sie zögernd aufstand und sich ihr Zeugnis abholte. Die Kommentare ihrer Mitschüler versuchte sie weitgehend zu ignorieren, als sie ihre Noten begutachtete: 'So übel ist es gar nicht, nur viele Vieren und nur wenige Dreien. Ich habs mir schlechter vorgestellt.' Einen Kommentar jedoch überhörte sie nicht: "Boah Louisa, schau mal, wie das Fett an ihrem Körper schwabbelt. Wie kann man so nur rausgehen? Das ist doch widerlich." Das war Tamara. Am Anfang dachte Marie, Tamara wäre nett. Doch eigentlich hatte Tamara ihr was vorgegaukelt, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Am Anfang wurde nur über sie gelästert, aber als dann auf Instagram Seiten über sie erstellt wurden und an jeden der Schule geschickt wurden, ihr im Unterricht Dinge geklaut wurden, sie als fettes Schwein, Hure, Sumoringer, dumm, hässlich und noch viel schlimmer beleidigt wurde, begann sie sich zu ritzen, um dieser Welt ein wenig zu entschwinden. Sie traute sich nicht, es zu erzählen, ihr wurde angedroht, dass man ihrer Familie dann was antun würde oder ihr das Leben noch mehr zur Hölle zu machen.

Als es klingelte, verließ Marie schnell das Klassenzimmer. Sie rannte quasi zum Wald, um dann nach Hause zu gehen. Aber vorher wollte sie zu der Brücke. Im Wald gibt es diese eine Brücke, die über einen steinigen Abgrund führt. Dort war sie meistens alleine. Dort konnte sie sich ungestört ritzen und weinen. Dort fand man sie nicht so schnell. Aber kurz bevor sie dort ankam, vernahm sie Schritte hinter sich. "Was.. Was wollt ihr noch von mir?", fragte sie Tamara und ihre Clique. "Nicht mal richtig sprechen kann dieses hässliche Etwas hier. Schaut euch dieses elendige Miststück doch mal an. Los kommt, zeigen wir ihr, wie man richtig mit Leuten wie uns redet." herrschte Tamara ihre Gang an. Keine drei Sekunden später kassierte Marie den ersten Schlag in die Magengrube. Danach bekam sie eine Ohrfeige und ihr wurde an den Haaren gezogen. Tom nahm ihr ihren Rucksack ab und schüttete den Inhalt auf den Boden und verteilte ihn mit Hilfe von Schüssen quer auf dem Waldboden. Paul und Moritz hielten Marie an den Armen fest, während Tamara und Louisa auf die einschlugen und ihr Begriffe wie "Hurentochter", "Nutzloses Stück Scheiße" und Sätze wie "Tu' der Welt nen Gefallen und bring' dich einfach um!" um die Ohren riefen. Die Jungs ließen Marie los und sie fiel einfach auf den Boden und blieb regungslos liegen. Jeder bespuckte sie noch, bevor sie Marie einfach dort liegen ließen.

Irgendwann stand Marie auf, sie versuchte es zumindest, denn ihr tat alles weh. Sie suchte ihre Federtasche und ihren Collegeblock und schrieb einen Brief. Einen Brief an ihre Eltern... Und an ihre Schwester Olivia. Olivia war ihr eineiiger Zwilling, von dem niemand aus ihrer Schule etwas wusste. Olivia ging auf eine andere Schule, sie wollte nichts mit Marie zu tun haben, Marie war ihr aus irgend einem Grund peinlich. Vielleicht hatte Tamara recht, vielleicht täte sie mit ihrem Tod einen Gefallen, aber innerlich war sie schon tot. Sie fing an zu schreiben...

'Hallo Mama, Hallo Papa, Hallo Olivia. Ich weiss ehrlich gesagt nicht, wie man sowas schreibt, aber ich will mich entschuldigen. Für all das hier. Als ich in die neue Klasse kam, dachte ich, ich hätte endlich Freunde und könnte lernen, mich selbst zu lieben. Aber leider kam das Gegenteil. Sie haben mich benutzt und mir gezeigt wie sehr man jemanden verabscheuen kann. Sie haben mich so sehr in den Selbsthass getrieben, mich blamiert, bloßgestellt, geschlagen, gedroht und mich so sehr in den Selbsthass getrieben, dass ich mich selbst nicht mehr als Marie wahrgenommen habe, sondern als fettes Schwein, als Hure, obwohl ich noch nicht mal einen Freund hatte. Sie haben auf Instagram Seiten über mich gemacht, wo sie gefakte Bilder von mir hochgeladen haben und sie an die gesamte Schule gesendet haben. Und heute ist alles eskaliert. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr leben. Ich wollte immer wie Olivia sein, ich wollte immer beliebt und selbstbewusst sein. Aber anscheinend bin ich zum Scheitern verurteilt. Mama und Papa, bitte haltet meinen Tod von den Medien fern. Die Anderen sollen keinen Triumph erleben. Olivia, ich bitte dich um eine einzige Sache: Bitte bringe den Anderen Manieren und Respekt bei, jeder respektiert dich, und die sollen es auch. Auf meinem Laptop sind in einem Ordner die Namen, Social Media Seiten und die Dinge, die sie mir angetan haben. Mein Passwort ist unser altes Codewort aus unserer Kindheit für dringende Notfälle. Ich hoffe, du hast es nicht vergessen. Ich liebe euch, aber ich kann es nicht mehr. Bitte seid nicht böse. Eure Marie.'

Marie faltete den Brief zusammen, nahm ihn in die Hände und humpelte so gut es ging auf das Brückengeländer zu. An dem Punkt, wo es am tiefsten hinunter ging, kletterte sie auf das Geländer, klammerte ihre Hände um das Papier, dachte an ihre Familie, weinte eine letzte Träne und sprang.

An die Mörder meiner SchwesterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt