Kapitel 6 - Fünf Jahre

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Als Aaron seinen Arm schützend um ihre Hüfte gelegt hatte, legte Olivia ihren Kopf an seiner Schulter ab und schloss kurz die Augen. Erst jetzt realisierte sie, dass sie, wären ihre Freunde nicht da gewesen, komplett hilflos und unfähig gewesen wäre. Sie hätte sich nicht einmal aus Pauls Griff befreien und sich vor seinem Schlag schützen können. In diesem Moment war sie sehr froh, dass ihre Freunde da waren und sie beschützen konnten. Aber wenn sie in der Schule nicht da sein werden, wird er am Montag seine Chance noch einmal nutzen und sich für Moritz rächen? Bei dem Gedanken, vor der Schule verprügelt zu werden, fing sie an zu schaudern und eine Gänsehaut bildete sich auf ihrer Haut. Aaron merkte dies und zog sie noch mehr an sich ran und zog Olivia in eine schützende Umarmung und wisperte ein "Alles ist gut, alles wird gut." in ihr Ohr. Olivia unterdrückte ihre aufsteigenden Tränen und ehe sie was sagen konnte, nahm sie Chrissi's euphorische Stimme wahr: "Also ich hab Hunger, wie wärs mit Pizza?" 

Später am Abend kam Olivia zuhause an. Schon in der Hauseinfahrt konnte sie ihre Eltern wieder streiten hören. Ihr flogen ein paar Satzausschnitte entgegen, die ihre Mutter in einem schrillen Ton von sich gab: "Olivia ... kaum noch zuhause! ... keine Kontrolle mehr...! Du .. unfähig .. zu erziehen!" Olivia betrat möglichst leise das Haus, um einer Erregung der Aufmerksamkeit ihrer Mutter aus dem Weg zu gehen. Sie schlich sich durch den Flur an der Küche vorbei, hoch in Richtung der schützenden Räumlichkeiten. In der oberen Etage angekommen,  brachte sie ihre Sachen in ihr Zimmer und betrat dann, wie jeden Abend, Marie's Zimmer. Beim Betreten atmete Olivia tief ein und genoss die mittlerweile vertraute Luft im Raum. Der Raum an sich, die Luft, die im Zimmer herrschende Atmosphäre waren ihr irgendwie vertraut, aber in gewisser Weise auch sehr fremd. Mittlerweile nahm sie den Streit ihrer Eltern gar nicht mehr wahr, sondern konzentrierte sich vollständig auf Marie's Zimmer: Als Marie noch lebte, hat sie dieses Zimmer nie wirklich betreten, allerhöchstens hatte sie kurz die Tür geöffnet, um Marie zum Essen zu rufen und selbst da hatte sie nie den Kopf durch den Türschlitz gesteckt. Und wenn Olivia die Wäsche für Marie mit hoch nahm, hat sie nur an die Tür geklopft, oder an manchen Tagen nur einen kurzen Tritt mit der Hacke. Und angeschaut hatte Olivia ihre Schwester sowieso schon nicht mehr richtig. Als sie so drüber nachdachte, stellte sie fest, dass sie von Marie nur noch ein ungefähres Bild im Kopf hatte. Natürlich, sie waren eineiige Zwillinge, aber doch hatte jede sich ein wenig anders entwickelt: Olivia hatte durch ihr Skaten immer einen   guten Körperbau und war auch ein wenig größer als Marie. Dafür hatte Marie besseres Haar als Olivia. Marie hatte die Locken ihres Vaters und Olivia die leicht welligen Haare ihrer Mutter. Zwar waren Marie's Haare nicht extrem stark gelockt, aber schon so, dass man einen sehr kleinen Lockenstab braucht, um diese Locken nachzumachen. Olivia hob ihren Blick und schaute die Fotos ihrer Schwester an der Wand an: Die einzigen Stücke, neben ihren Erinnerungen an die Zeit mit Marie, wobei selbst diese sehr spärlich ausfielen. Eigentlich waren da nur die Kindheitserinnerungen bis zur sechsten oder siebten Klasse. Plötzlich überkam Olivia bei dem Gedanken an die ganzen verlorenen Jahre und deren gemeinsamer Kindheit ein Gefühlscocktail aus Wut, Trauer und Verzweiflung. Olivia konnte nicht einmal genau sagen, was plötzlich passierte, als ihr schon die erste Träne die Wange hinunter kullerte. Nach dieser einen Träne kamen sehr schnell sehr viele mehr und Olivia schmeckte die salzigen Tränen auf ihren Lippen. Alle Tränen, die sich über den Tag aufgestaut hatten, brachen auf einmal alle Dämme und flossen ihre Wangen hinunter. Ihren Beinen entwichen ebenfalls alle Kräfte, weswegen sie unter Olivia's Körper zusammenbrachen. Es war, als würden die Tränen nie mehr aufhören wollen zu fließen. Mit ihnen erlebte Olivia Flashbacks zurück in ihre Kindheit. Sie erinnerte sich an deren Einschulung, wo Olivia Marie im heimischen Garten eine Wasserbombe ins Gesicht warf und mit drei Tagen Hausarrest gestraft wurde. Eine weitere Erinnerung war ihr elfter Geburtstag, als Olivia ihrer Schwester ein Furzkissen unter das Stuhlkissen gelegt hatte und Marie vor Scham anfing zu weinen, als sie sich setzte und das Kissen vor der gesamten Geburtstagsgesellschaft seinen Zweck erfüllte. Wieder bekam Olivia Hausarrest. Olivia war schon immer gemein zu Marie und sie steigerte sich von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr. In diesem Zustand wurde ihr erst so richtig bewusst, dass sie fünf Jahre verloren hatte. Fünf ganze Jahre, in denen sie sich Null für ihre Schwester interessierte und das nur, weil sie eine unbegründete Abneigung, beinahe schon Hass gegenüber Marie empfand. Zu viel Zeit hatte sie damit verbracht, sich nur um ihre Dinge zu kümmern und nicht ihrer Schwester in der wohl schlimmsten Zeit ihres Lebens beizustehen. Das Gefühl, nicht da gewesen zu sein, zerfraß sie. Hätte sie Marie vielleicht einmal nur zugehört, wäre sie vielleicht noch am Leben und könnte ihren 18. Geburtstag feiern.

Ein beruhigendes "Pscht, alles wird gut. Ich vermisse sie auch." ließ Olivia zusammenzucken. Ihr Vater hatte sich hinter Olivia gekniet und von hinten in seine Arme gezogen. Olivia lag halb bei ihrem Vater auf dem Schoß und er wiegte sie so, wie er es das letzte Mal tat, als sie sich mit 9 Jahren das erste Mal beim Skaten das Knie aufschlug und nie wieder aufs Board steigen wollte.  Das erste Mal, seit sie am heutigen Tage zuhause war, fühlte sie sich wieder geborgen und sicher. Nachdem Olivia aufgehört hatte zu weinen, stand ihr Vater auf und zog sie mit auf die Beine und umarmte sie nun nochmal richtig. Olivia sah im Hintergrund nur ihre Mutter mit einem missmutigen Blick stehen und schloss direkt wieder die Augen, damit sie das Gesicht nicht ertragen musste. Nach dieser Umarmung löste Olivia sich und  verabschiedete sich mit den Worten "Gute Nacht, ich geh mich ausruhen. Heute war ein echt schlimmer Tag" von ihrem Vater und ging in ihr Zimmer. Sie zog sich nur noch ihre Hose aus und legte sich direkt so in ihr Bett. Sie wollte möglichst schnell einschlafen und zurück in ihre Kindheitserinnerungen gelangen.

An die Mörder meiner SchwesterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt