Kapitel 2 - Nächtliche Gedanken

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Am nächsten Morgen begann die Schule. Olivia suchte sich ein relativ normales Outfit raus, eine weite, zerrissene Jeans, darunter eine grobmaschige Netzstrumpfhose, einen Hoodie von Trasher und Dr. Martens. Ihre braunen, lockigen Haare band sie in einen unordentlichen Zopf zusammen. Sie überkam ein mulmiges Gefühl, als sie das Haus verließ um zur Schule ihrer Schwester zu gehen. Auf dem Weg überkam Olivia aber wieder dieses warme Gefühl von letzter Nacht, als sie über das Zwillingsband mit Marie kommuniziert hatte. Sie fühlte sich sofort stärker und beeilte sich, pünktlich zu kommen.

Als sie das Gebäude betrat, merkte sie direkt die Blicke auf ihr ruhen. Sie war sehr schlank und sportlich, halt genau wie ihre Zwillingsschwester. Sie sah die missbilligenden Blicke der Schüler auf sich ruhen, die dann sehr schnell zu purer Verwirrung wurden. Olivia genoss die Blicke, die auf ihr ruhten, als sie zum Klassenzimmer ging. Sie betrat den Raum und die paar Leute, die schon auf ihren Plätzen saßen, betrachteten die vermeintliche Marie nach ihrem "Style Change" sehr skeptisch, und als sie sich hinten ans Fenster begab, weil sie dort perfekt auf den Wald blicken konnte, wurden ein oder zwei Leute blass, der Rest wirkte gespannt auf die Reaktionen der beiden Personen, die sonst immer dort saßen: Tamara und Louisa. Olivia hatte es sich grad bequem gemacht, als besagte Personen den Raum betraten. Ein Raunen ging durch die Klasse, als sie sich vor die vermeintliche Marie stellten: "Ach wie niedlich. Nur weil unser Fettmariechen sich über den Sommer einen neuen, noch hässlicheren Kleidungsstil zugelegt hat, denkt sie, dass sie besser als wir ist und sich einfach so auf unsere Plätze setzen kann." - "Ey, erstens sitze ich euch gegenüber, zweitens bin ich jetzt hier, also verpisst euch und setzt euch gefälligst ne Reihe nach vorne! Ich bin nicht wie eure nervigen Fußhupenhunde, die ihr hin- und herschicken könnt, wie es euch grad passt. Also zischt ab!" konterte Olivia in einem gereiztem Ton. Die Angesprochenen hatten nicht mit einer solchen Antwort gerechnet und waren im ersten Moment perplex. Jedoch gaben sie widerwillig nach, als der Lehrer den Raum betrat und einen prüfenden Blick durch die Klasse schweifen ließ. Er nickte kaum merklich in Olivias Richtung und begann dann ganz normal mit dem Unterricht. Olivia grinste über den kleinen Erfolg in sich hinein und begutachtete die Gang, die Marie auf ihrem Laptop erwähnt hatte. Während des Unterrichts machte sie sich Notizen zu jedem Mitglied der Clique. Als dann endlich Schluss war, wurde Olivia von zwei Jungs aus der Gruppe festgehalten: "Dass du dich gegen Tamara und Louisa versucht hast aufzulehnen, wirst du noch bereuen Schlampe. Die beiden werden deinen Aufstand - oder was auch immer das darstellen soll - nicht lange dulden. Also mach dich auf was gefasst." Das mussten Moritz und Paul sein. Tom stand eher im Hintergrund und schien der Sache eher aus dem Weg gehen zu wollen. Olivia riss sich mit den Worten "Und soll ich mich bei euch auch auf was Eigenes gefasst machen? Oder seid ihr auch nur zwei Schoßhunde von Tamara? Denn sie hat euch ja auch angehalten, mir Angst zu machen oder sowas. Dürfte ich jetzt nach Hause? Ich hab Wichtigeres zu tun, als mich hier von euch volllabern zu lassen." "Marie" verließ die Klasse mit einem zufriedenen Grinsen und ließ zwei verwirrte Jungs stehen.

Zuhause angekommen, hatte Olivia sich einen Plan überlegt, wie sie am besten an die Gang oder Clique oder wie auch immer man das nennen kann, herankommen und sie auseinander nehmen könnte. Auf ihrer Pinnwand befestigte sie die sechs Namen der Mobber kreisförmig, in die Mitte kam Tamara's Name. Mit Schnüren verband sie die Namen und mit Post-Its klebte sie unter die Namen erste Eindrücke, sowie Stärken und Schwächen, die sie am ersten Tag erahnen konnte. Olivia's Mutter betrat das Zimmer: "Schatz, du hast Besuch unten, und.. oh, sind das die Namen der Schüler, die Marie das angetan haben?" - "Ähm, soweit ich es weiß, ja, sind sie. Die treibende Kraft in der ganzen Sache ist Tamara. Ihre beste Freundin Louisa und die anderen ziehen denke ich einfach nur mit. Der eine Junge, Tom, ist oft abseits und wirkt so, als würde er das alles gar nicht wollen. Ich denke, ich fange mit ihm an, er ist am einfachsten zu überzeugen denke ich. Wer besucht mich eigentlich?" - "Oh, stimmt. Es ist Chrissi, mein Schatz. Sie wollte nach dir sehen. Soll ich sie hochschicken?" - "Ja, mach. Danke."  Wenige Augenblicke später stand Chrissi mit ihrem Skateboard in Olivia's Zimmer. Chrissi war Olivia's beste Freundin, seit der fünften Klasse schon. Sie stand immer hinter Olivia, besonders nach dem Tod von Marie. "Hey was geht ab? Wie war der erste Tag unter den Arschlöchern?", mit einem Blick auf die Pinnwand plapperte sie weiter "Sind das die Namen? Lass mal sehen.. Hmm. Also Tamara ist das Zentrum des Ekels, dann kommt diese Louisa, dann Charly.. Oh mein Gott, was ist das für ein Name alter.. Und dann die Jungs. Moritz, Paul und Tom. Warte, warum ist Tom so weit im abseits?" Olivia musste grinsen. "Danke, dass ich auch zu Wort kommen kann. Also Tom ist soweit im Abseits, weil er nicht wirklich dazu gehört. Er wirkte heute sehr verschlossen und abgegrenzt, hat nicht viel gesagt oder getan. Ich denke, dass bei ihm etwas anderes im Busch ist, als die Leidenschaft, kleinen, schüchternen Mädchen das Leben zur Hölle zu machen. Ich werde bei ihm anfangen und ihn dann vom Richtigen überzeugen." Die beiden redeten noch länger, bis Chrissi wieder nach Hause musste. Olivia kam diese Ruhe gelegen. Sie begab sich in Marie's Zimmer, machte es sich auf ihrer Fensterbank bequem und widmete sich komplett ihren Gedanken, in der Hoffnung, dass Marie sie wieder hören würde. 'Ich weiß nicht wie ich diesen Gedanken beginnen soll, aber ich will mich entschuldigen. Entschuldigen dafür, dass ich ich nie für dich interessiert habe. Ich weiß selbst nicht mal wirklich, woran es gelegen hat, aber ich denke, es lag daran, dass wir doch so gleich und doch so verschieden waren. Du warst.. Ein Mädchen. Du hast gerne rosa getragen, im Sommer viele Röcke, und ich war immer so.. anders. Ich kam damit anscheinend nicht klar. Jedenfalls, wenn ich auf dich mehr Acht gegeben hätte, mehr auf dein Wohlbefinden, auf deine Worte, die du zu mir gesagt hast, geachtet hätte, würdest du noch leben und neben mir sein. Ich hätte den Leuten mit Chrissi und den Anderen einen Besuch abgestattet und sie in die Schranken gewiesen. Das, was Schwestern eigentlich auch tun sollten, und nicht, wie ich, dich versuchen, aus meinem Leben zu streichen. Was ich eigentlich sagen will, ist, dass es mir mehr als unendlich leid tut. Ich kann deinen Tod zwar nicht rückgängig machen, aber ich kann dich rächen und für Gerechtigkeit sorgen.'

Und da war es wieder, dieses warme Gefühl auf der Haut, was Olivia ein kleines bisschen Geborgenheit gab. Mit dieser Geborgenheit ging sie in ihr eigenes Zimmer zurück und schlief ein.

An die Mörder meiner SchwesterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt