Kapitel 1 - Für Marie.

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Die Sommerferien neigten sich dem Ende zu. Das war für Familie Witt der schlimmste Sommer seit Langem. Marie hatte sich umgebracht. Sie wurde heftig gemobbt, auf Social Media und im echten Leben, sie wurde geschlagen und ihr wurde gedroht. Gedroht, dass man ihrer Familie etwas antun würde, wenn sie auch nur einen Mucks über das Mobbing von sich gab. Olivia saß auf ihrem Bett. Sie blickte aus dem Fenster, sah in Richtung des Waldes, der das Leben ihres Zwillings beendet hatte. Sie erinnerte sich an den verhängnisvollen Tag zurück, als der Anruf der Polizei kam:

'Ich kam gerade zuhause an und präsentierte meinen Eltern mein Zeugnis. Meine Eltern wunderten sich, wo Marie bleiben würde, ihr Schulweg sei schließlich kürzer als meiner. Es interessierte mich nicht wirklich, bis auf einmal unser Telefon klingelte. Sie sagten uns, dass wir zum Wald kommen sollten, dass Maries Schulsachen dort kreuz und quer auf dem Waldboden verteilt waren. Meine Eltern wollten sofort los und bestanden darauf, dass ich mitkam. Wiederwillig, aber mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, kam ich mit. Dort angekommen, sah ich ihren Rucksack im Dreck liegen, sowie alle ihre Wertsachen. Ich sah mich um und bemerkte die Brücke. Von der hatte sie mir mal erzählt, aber ich wollte nicht zuhören. Es hat mich einfach nicht interessiert. Ich sah mich weiter um und sah die offene Federtasche und den Collegeblock auf dem Boden liegen. Mein mulmiges Gefühl im Magen wurde intensiver und ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich ging zu meine Eltern, die sich gerade mit den Polizisten unterhielten und deutete auf den Block. Wortlos folgten sie meinen Blicken zwischen der Brücke und meinem Fund. Irgendetwas zog mich zu der Brücke, ich konnte es nicht beschreiben, aber ich ging auf die Brücke und blickte hinab. Es fühlte sich an wie Stunden, bis mein Gehirn realisierte, dass dort unten meine Schwester in einer gigantischen Blutlache lag. Ich begann zu schreien und rannte von der Brücke, versuchte so schnell es geht nach unten zu kommen. Mein Vater hielt mich fest, während die Polizisten sich ihren Weg nach unten bahnten. Meine Mutter begann, wie ich, zu weinen. Ich weiß nicht, was ich in dem Moment gefühlt habe, wahrscheinlich einfach nichts. Der eine Polizist kam wieder hoch zu uns und hielt Papier in der Hand. Mein Vater ließ mich los und nahm den Brief und las ihn vor. Meine Eltern weinten nun beide und wurden blass um die Nase. Ich stand einfach nur da, bis auf einmal mein Name fiel. Ich sah auf und lauschte ihren Worten. Die Welt um mich herum nahm ich nicht mehr wahr, ich dachte nur daran, dass meine Schwester tot war. Tot, weil irgendwelche Idioten sie in den Selbsthass und den Tod getrieben haben. Das war der schlimmste Tag in meinem Leben.'

POV Olivia

Noch am selben Tag nahm ich mir Marie's Laptop vor. Ich hatte unser Passwort nie vergessen, weil ich mich gerne an die Tage erinnere. Ich mach es auch noch immer gerne. Letztendlich hätte es mehr von diesen Tagen geben sollen. Gäbe es nur so etwas wie einen Reset-Button oder so, ich würde gerne einiges anders machen. Jedenfalls musste ich weinen, als ich las und sah wozu Menschen fähig sein können. Sowas zu machen, ist doch schon mehr als krank. Ich wollte Marie's Wunsch, ihren Mobbern Manieren und Respekt beizubringen, zu gerne nachkommen. Sie sollten wissen wie es ist, wenn man ausgenutzt und gemobbt wird. Es sollte nicht einfach werden, zumal ich zu diesem Zeitpunkt die Mobber nicht kannte. Ich kannte nur ihre Stimmen, von den Tonaufnahmen, die Marie aufgenommen hatte.  Ich hatte das alles mit meinen Eltern und meinen beziehungsweise Marie's Lehrern besprochen. Ihr Tod wurde, wie sie es sich gewünscht hatte, von den Medien ferngehalten. Auf meiner Schule waren nur meine Freunde eingeweiht, sie wollten mir helfen. Ich fand das toll, aber ich wollte sie in die Geschichte nicht mit reinziehen. Marie's Lehrer und der Direktor von Marie's Schule stimmten zu, sie wollten ihre Schuld wenigstens ein bisschen besser machen. Nach außen hin war ich Marie Witt, aber bei den Lehrern und auf meinem Zeugnis würde Olivia Witt stehen. Es war der perfekte Plan. Meine Eltern waren sich aber unsicher, ob ich das durchstehen würde. 'Ich bin stark. Ich muss es durchstehen. Für Marie.'

Am Abend, nach dem Abendessen, zog sich jeder in sein Zimmer zurück. Ich ging in Maries Zimmer. Ich bestand darauf, es so zu lassen wie es war, damit wir ihr nah sein konnten. Und vielleicht wollte ich sie nicht einfach aus ihrem Zimmer vertreiben, wie ich sie aus meinem Leben vertrieben habe. Ich setzte mich auf ihre breite Fensterbank und blickte zum Mond hinauf. Es war Vollmond. Marie liebte den Mond... Denke ich. Im Nachhinein weiss ich kaum etwas über sie, obwohl unsere Zimmer nebeneinander waren und wir unter einem Dach lebten. Wir haben aber kaum miteinander geredet, beziehungsweise ich wollte nicht mit ihr reden. "Es tut mir alles so unfassbar leid Schwesterchen. Ich war nicht da als du mich am meisten brauchtest. Ich war überhaupt nicht da, wie man es für eine Schwester sein sollte." murmelte ich vor mich hin. Ich vernahm plötzlich ein Kribbeln an meinem Rücken und mir lief ein kalter Schauer über diesen, als wäre jemand hinter mir. Das Kribbeln wurde schlagartig angenehm warm und legte sich auf meine Haut, als wäre jemand da der bei mir sein wollte. "Ma.. Marie? Bist du da?" fragte ich in die Stille. Im selben Moment kam ich mir unfassbar dumm vor, bis in meinen Gedanken auf einmal Marie's zarte Stimme ertönte und 'Ich war nie weg, ich war immer da und werde es immer sein, ich liebe dich.' flüsterte. Ich war kurz erschrocken. Erschrocken vor mir selbst, dass ich gerade die Stimme meines Zwillings vernahm. War das diese Zwillingsverbindung, dieses unsichtbare Band zwischen Zwillingen, von dem immer alle reden? Ich wusste es in dem Moment nicht, aber ich wusste eins: Ich wollte Gerechtigkeit für meine Schwester, die Mobbing zum Opfer gefallen ist. Ich wollte, dass diese Clique so etwas nicht noch einmal macht. Und für wen? Für Marie.

An die Mörder meiner SchwesterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt