Er blickte nach unten. Er konnte die Autos sehen. Und die Menschen. Sie waren alle so winzig klein! Wie Spielzeuge von etwas, das viel größer war als sie alle.
Er richtete seinen Blick auf den Horizont. Die Sonne ging gerade unter und färbte die Wolken in einem so strahlenden orange, dass es fast schon in den Augen wehtat hinzusehen.
So etwas wunderschönes!
Er streckte die Arme aus. Hier oben fühlte er sich frei. Hier oben fühlte er sich dem Himmel so nah, als ob er ihn berühren und ein Stück von ihm in seiner Tasche verstauen könnte. Und er war glücklich.
Ja, er hatte Angst. Das Hochhaus, auf dem er saß, war rund fünfhundert Meter hoch, so schätzte er es jedenfalls. Vielleicht auch höher, er wusste es nicht, denn es interessierte ihn nicht. Auch die Höhe machte ihm keine Angst mehr. Klar, ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, von hier oben abzustürzen, aber in diesem einen Moment, in dem er an der Kante des Gebäudes saß, die Arme ausbreitete und den Wind im Gesicht spürte zusammen mit den letzten warmen Strahlen der untergehenden Sonne, konnte er fühlen, dass er lebte.
Er atmete tief durch. All die Fehler, die er in seinem Leben gemacht hatte, waren hier oben nicht mehr von belangen. Auf dem Dach dieses Wolkenkratzers begann für ihn eine andere Welt. Eine Welt, in der er er selbst sein konnte und es schaffte, loszulassen. Hier konnte er vergessen. Schmerzen überwinden. Einfach glücklich sein.
Hier oben war die Luft klar, genau wie seine Gedanken. Den Alltag, den Stress, das schlechte Gewissen – all das ließ er unten. Sobald er hier oben war, war er frei. Konnte wieder atmen. Konnte wieder klar denken. Konnte loslassen.
Nur eine falsche Bewegung und er würde abstürzen. Dachte er daran? Nein, eigentlich nicht. Eigentlich sortierte er hier seine Gedanken, seine Gefühle. Er verdaute hier die schlimmsten Erlebnisse seines Lebens, versuchte damit klar zu kommen, dass er seelisch abgestürzt war. Vielleicht mochte er es deshalb hier so gerne, weil er die Kontrolle hatte. Er selbst konnte entscheiden, ob er sprang, oder wieder die Treppe nahm. Doch als er damals mit dieser einen Sache anfing und alles aus dem Ruder gelaufen war … Es war eine schreckliche Zeit für ihn gewesen und doch hatte er es geschafft, wieder aufzustehen. Er war aufgestanden und hatte gekämpft. Und mit jedem Tag, den er hier oben verbrachte, wurde ihm bewusster, wie schön sein Leben doch war. Wie schön die Welt doch war. Und wie frei man sich selbst als Gefangener in einer Gesellschaft mit einer Norm, die man nicht erfüllen konnte, zu fühlen vermochte.
