Geheimnisse

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John konnte sehen, wie Sherlock sich verändert hatte, wie er sich bemühte dem Bild gerechter zu werden, das John mit seinen kleinen Geschichten über ihn zeichnete. Auch wenn Greg fest daran glaubte, dass dem Consulting Detective die öffentliche Meinung immer noch ziemlich egal war. Aber Johns Meinung war es nicht, John war ihm nicht egal. Der Arzt wusste, dass Sherlock seinen Blog las und sein Bestes tat, der Mann zu werden, den John in ihm sah.
Zumindest war es so gewesen. So waren sie gewesen. Sherlock und er. Vor dem Fall.

Es gab Fragen, die stellte John sich nicht.
Hätte er auch dann ein Kind mit Mary gewollt, wenn er nicht vor vollendete Tatsachen gestellt worden wäre?
Hätten er auch dann versucht ihre Ehe zu retten, wenn Mary nicht schwanger gewesen wäre?
Hätte er Mary auch dann geheiratet, wenn er Sherlock nicht tot geglaubt hätte?
Er war sich nicht sicher. Nicht sicher, ob er die Antworten ertragen könnte. Also fragte er nicht.

Seitdem Sherlock wieder da war, konnte er nicht mehr einschlafen, wenn Mary ihn berührte, wenn er sie neben sich spürte. Es fühlte sich irgendwie... es fühlte sich so an als wäre es... nicht richtig. Das einzige, was ihm half in den Schlaf zu finden, war klassische Geigenmusik, so wie früher nach Sherlocks Fall, bevor er Mary getroffen hatte. Mit der Zeit war sie der Grund geworden seinem besten Freund nicht in den Tod zu folgen. Sie hatte ihm gezeigt, dass das Leben noch etwas anderes bot als Schmerz. Doch nun lag John mit Kopfhörern in ihrem gemeinsamen Ehebett und hoffte, seine Frau würde nichts bemerken.

Die Albträume waren zurückgekehrt. Doch zu den Kriegsszenen hatte sich nun auch Sherlock gesellt, auf dem Dach, fallend, aufschlagend, blutend, sterbend. Auch nach seiner Rückkehr, seiner Auferstehung, waren sie nicht verschwunden, die Träume. Nach der Hochzeit waren sie wieder schlimmer geworden.

Aber von alledem würde Sherlock nie etwas erfahren.


„Wer würde mich schon als Mitbewohner wollen?" Ein rein sarkastisches Gespräch und Mike Stamford hatte das gewusst. Sherlock hatte keinen Untermieter gebraucht. Er hatte keinen gewollt. Doch dann war er John begegnet und seine Meinung diesbezüglich hatte sich schlagartig geändert.
Anfangs war es ungewohnt gewesen nicht mehr allein zu sein. Der Consultig Detective hatte ihn gehört, nachts, im oberen Schlafzimmer. Von Woche zu Woche war der Schlaf des ehemaligen Soldaten ruhiger geworden. Es hatte Sherlock verändert. Das Hören. Und das Gehört-Werden. Plötzlich hatte er etwas gehabt, das er hatte verlieren können. Jemanden.
Wenn John nicht da gewesen war, hatte er kein Auge zugetan. Besonders dann, wenn der Grund seiner Abwesenheit ein Date gewesen war. In der Dunkelheit der unbeleuchteten Wohnung hatte er auf ihn gewartet, manchmal bis in den frühen Morgen, bis er endlich den Schlüssel im Schloss vernommen hatte, Johns schwere Schritte auf der Treppe.
Jetzt griff Sherlock jede Nacht zu seiner Violine, um nicht zu etwas ganz anderem zu greifen, um die Stille der leeren Räume zu übertönen, um zu überspiele, dass er allein war ohne John.

Er konnte es in ihren Augen sehen. War es nicht pure Ironie, dass seine Zuneigung ebenso platonisch erwidert wurde? Oh ja, er hatte begriffen, dass Molly und ihn da etwas verband. Aber er konnte nichts ändern. Weder an ihrer unerwiderten Liebe, noch an seiner. Er hatte es nie für möglich gehalten, imstande zu sein etwas zu geben, das er nicht empfangen konnte.

Noch immer glaubte der Arzt, Sherlock würde das Gefühl der Liebe nicht kennen und noch nie Sex gehabt haben. Nun ja, letzteres stimmte, zumindest in Teilen. In seiner schlimmsten Zeit hatte Sherlock mit Gefälligkeiten körperlicher Natur seinen Drogenkonsum finanziert. Natürlich wäre er auch anders an Geld gekommen, aber das war der effizienteste Weg gewesen. Jedoch war es dabei nie zum Vollzug des Geschlechtsverkehrs gekommen.
Bis auf das eine Mal. Er hatte schon zu lang nichts mehr genommen, die Entzugserscheinungen hatten ihm zu schaffen gemacht, seinen Verstand vernebelt, und so hatte er viel zu spät bemerkt, was sein neuester 'Klient' im Sinn gehabt hatte. Als dieser mit ihm fertig gewesen war, hatte der ihn einfach dort liegen gelassen. Danach hatte Sherlock sich eine letale Dosis Morphium gespritzt. Mycroft hatte ihn gefunden und zum ersten Mal hatte er seinen älteren Bruder weinen gesehen.
Der Mann, der ihm das angetan hatte, war daraufhin spurlos verschwunden. Während Sherlock anfangs angenommen hatte, die britische Regierung hätte dabei ihre Finger im Spiel gehabt, hatte er später herausgefunden, dass Moriarty ihn umgebracht hatte. Über dessen Motive konnte er nur spekulieren. Reviermarkierung vielleicht. Oder Eifersucht.

Aber von alledem würde John nie etwas erfahren.

Das Vergangene war vergangen. Sherlock wusste, wie man Dinge hinter sich ließ. Er schloss einfach die betreffende Tür seines Gedächtnispalastes ab. Verriegelt und zugemauert. Betreten verboten. Nur hinter John wollte er nicht abschließen. Er konnte es nicht.

Er wollte John an seiner Seite wissen. Er brauchte dessen Verstand, aber vor allem brauchte er Johns Herz. Durch seine Augen sah er die Welt auf eine andere Weise. Und würde John verschwinden, dann würde auch diese Welt verschwinden.

John hatte ihn in den zwei Jahren auf der Jagd nach Moriartys Netzwerk gesund gehalten, hatte ihn begleitet in seinem Geist, ihm einen Grund gegeben zu kämpfen, zu überleben. Nun war er wieder in London, doch John schien weiter fort als jemals zuvor.

Es war nur für den Fall, sagte er sich. Aber das war eine Lüge. Dieselbe Lüge, die er John erzählte, als dieser ihn in dem Crackhaus fand. Er konnte jederzeit damit aufhören, er war stärker als die Droge, sagte er sich. Aber er hatte keinen Grund es bleiben zu lassen. Nicht mehr. Aber das war okay. Es musste okay sein.



Musik zum Kapitel: White Lies – Dream State

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 16, 2020 ⏰

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Melodien für John (Johnlock)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt