Lektion 20: Ungewissheit ist manchmal besser!

2.8K 158 29
                                    

Irgendwann brauchte Liena eine kurze Pause von all dem. Es war ihr zu viel. Sie konnte es nicht ertragen, Raph leichenblass und bewusstlos in diesem Bett zu sehen, ohne zu wissen, ob er überhaupt aufwachen würde. Oder ob der Zombbiss schon genug Gift in seinem Körper verteilt hatte, um ihn letztendlich doch zu töten. Liena mied es, den Blick auf seinen Arm zu legen, denn der grelle weiße Verband verursachte ihr Übelkeit. Raph war um einen Arm kürzer- weniger. Wie sagte man so etwas? Das würde ihm ganz sicher nicht gefallen.

Trotzdem war er nicht über den Berg. Hin und wieder hatte ein Arzt hereingeschaut und seinen Zustand gecheckt, ihr aber kein Wort mehr verraten. Die angespannte Stimmung der Ärzte hier und die vielsagenden Blicke sagten aber alles und raubten Liena den Verstand. Also riss sie mit Schwung den weißen Vorhang beiseite, der Raph von den anderen Patienten im Krankenflügel abtrennte. Sie mochte einfach keine Krankenhäuser. Und Solaris mochte sie schon dreimal nicht. Wie konnte man einem Camp auch nur einen so bescheuerten Namen geben?! Allein die Tatsache, dass ihr Vater hier Herr war, ließ Liena wütend werden. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihn nie wieder zu sehen. Doch er hatte sich kein bisschen verändert. Er trug sein freundliches Gesicht wie eine Maske, aber sie konnte dahinter sehen. Ins Gesicht hatte er ihr gelogen. Es hatte sie schon wirklich gewundert, dass sie ohne ein blaues Auge davongekommen war.

Liena wanderte zwischen den Vorhängen hindurch. Sie verließ den Krankenhausflügel und lief einfach los. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie ging, sie war viel zu tief in Gedanken versunken. Sie lief an einem Labor vorbei. Kurz blieb sie stehen und spähte durch das kleine runde Fenster in der Tür. Zwei Menschen in Ganzkörperanzügen arbeiteten darin und hantierten mit kleinen Reagenzgläsern und Petrischalen herum. Plötzlich drehte sich einer der beiden um und starrte zu Tür. Schnell duckte sich Liena und eilte weiter. Sie hatte das Gefühl, dass sie am besten nicht beim Herumstreunen erwischt werden sollte. Sie bog schnell um eine Ecke und ging durch eine Flügeltür, bis sie in einem spärlich beleuchteten Gang stand. An dessen Ende konnte sie eine Tür erkennen. Auch wenn ihr eigentlich nicht mehr nach neuen Entdeckungen zumute war, weckte diese Tür ihre Neugier.

Unbefugter Zutritt verboten!, stand auf einem Schild an der Tür. Das Schild schien jedoch nur provisorisch dort angebracht worden zu sein. Sie drückte die Klinke nach unten. Abgeschlossen. Doch zum Glück war es nur ein einfaches Schloss, dass Liena mit zwei ihrer Haarklammern in null komma nichts geöffnet hatte. Vorsichtig öffnete sie die Tür. Dahinter war ein weiterer Gang zu sehen, von dem verschiedene Türen abgingen. Liena sah Licht unter einer der Türen hindurch schimmern. Der Raum dahinter war hell erleuchtet. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke. Verwirrt lief Liena einige Schritte in das Zimmer hinein. Und war noch mehr überrascht, als sie sah, was darin stand.

Sie stand in einem spärlich eingerichteten Zimmer mit Bett, Schrank und Tisch.

"Hallo?", fragte Liena verwirrt. Es sah so aus, als würde hier jemand wohnen. Jedoch lagen keine Klamotten herum, noch waren irgendwelche andere persönlichen Gegenstände zu sehen. Liena erschrak, als sich plötzlich eine Tür rechts von ihr öffnete, die sie noch gar nicht bemerkt hatte. Eine blonde Frau trat heraus. Sie war groß und schlank, fast schon ein bisschen zu schlank. Was sofort auffiel, war ihr schräger Mund, sowie die Nase. Es sah unnatürlich aus, der eine Mundwinkel hing schlaff nach unten und die Nase saß auch ein wenig zu tief. Als die Frau blinzelte, war ein Auge schneller als das andere. Liena fiel alles auf, sie starrte die fremde Frau auch ziemlich lange an. Trotz dieser Makel merkte Liena aber auch, dass die Frau früher mal hübsch gewesen sein musste. Was auch immer mit ihr passiert war.

"Hallo. Kann ich dir helfen?", fragte die Frau freundlich und ignorierte Lienas Starren gekonnt.

"Ähm... ich...", stotterte Liena. "Ich glaube, ich habe mich verlaufen."

Signs of CainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt