Scherbenmenschen

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Als ich aufwachte, saß Aiden an meinem Bett. Mein Herz machte einen Sprung als ich ihn sah.
"Hey, Kleines."
Die Ärmel seines schwarzen Sweatshirts waren hochgekrempelt und entblößten blaue Flecken.

Hatte er die wegen mir?

"Hey."
Meine Stimme klang total verschlafen.
Na super.

Er lächelte. "Wie geht's dir?"
"Besser. Und dir?"
"Mir?"
Er sah kurz überrascht aus.
"Gut. Warum fragst du?"
War es denn so ungewöhnlich, dass ich mich um ihn kümmern wollte?
Stopp. Ja es war ungewöhnlich. Friedenswächter. Distrikt 7.
Sieger. Krankenschwester.
"Naja, du hast auch ziemlich was abgekriegt."
Ich berührte sanft seinen Arm.
Kurz zuckte er weg.
Ich schaute ihn besorgt an.
"Keine Angst, du hast mir nicht weh getan." Er versuchte mich zu beruhigen.

Ich schaute ihm ins Gesicht.
Er hatte immer noch schwarze Ränder unter den Augen, aber seine Augen waren nicht so stumpf wie sonst.

"Hat sich jemand um dich gekümmert?"
"Ich hab mich selbst um mich gekümmert. Alles okay, ich mach das nicht zum ersten mal."

Ich überlegte, ob ich ihn fragen sollte, was er damit meinte.
Er schien zu erraten was ich dachte.
"Ich bin das bloß nicht gewohnt, dass mich jemand so anfasst. Du bist immer so sanft. Sonst wollen mich immer alle bloß umbringen."
Er grinste, aber ich wusste, das es stimmte.

"Aiden, kann ich dich was fragen?"
"Hm."
"Warum bist du her gekommen?"
Er führ sich durch die Haare.
Mir fiel auf, dass er das ziemlich oft machte. Er hatte immer diese Unruhe in sich.
"Das ist ne' ziemlich lange Geschichte."
"Ich hab heute nichts mehr vor."
Er grinste schief.
"Also schön. Sag aber nicht, ich hätte dich nicht gewarnt."
Er schaute mich lange an, bevor er anfing zu erzählen.
"Es hat angefangen, als ich noch ein Kind war, schätze ich. Da war ich vielleicht fünf oder sechs. Das ist das Alter in Distrikt 2 in dem man so allmählich an die Akademie und die Arena gewöhnt werden soll.
Die haben da ein ziemlich ausgeklügeltes System mit dem sie das Entstehen von sämtlichen Gefühlsregungen unterbinden wollen. So Sachen wie Mitgefühl, Angst, Nächstenliebe eben.
Zu dem Zweck hat man uns irgendwelche ausgewählten Szenen aus den Hungerspielen gezeigt.
Ein Tribut hat einen aus Distrikt 2 getötet.
Distrikt 2 tötet einen Tribut.
Jemand tötet einen von uns.
Wir töten einen von ihnen.
In Distrikt 2 zwingen sie niemanden in die Arena zu gehen. Sie lassen einen nur Hassen, der Rest kommt von ganz alleine."
Er stoppte und starrte nach unten.
Unbewusst hatte ich nach seiner Hand gegriffen.
"Soll ich aufhören?"
Ich schüttelte den Kopf.
Vielleicht war er nie mehr so aufgeschlossen gegenüber mir. Ich musste alles wissen.
"Jedenfalls," er sah kurz zerstreut aus. "Jedenfalls wird auch niemand gezwungen in die Akademien zu gehen. Das hängt alles von den Eltern ab. Mein Vater war immer dafür, dass ich und mein großer Bruder in die Akademie gingen. Meine Mutter nicht. Sie hat sich aber auch nie für uns eingesetzt. Deshalb wurden wir eben dahin geschickt. Es hat sich aber ziemlich schnell rausgestellt, dass ich kein Talent fürs töten hatte. Ich hab nicht verstanden warum, die Menschen taten mir leid, ich war zu schwach, zu klein, nicht gut genug. Irgendwas war immer. Irgendwann hat mein Vater meiner Mutter die Schuld gegeben. Sie hätte mich verweichlicht, keine Ahnung. Er hat mich fallen gelassen und sich auf meinen Bruder konzentriert. Xander hatte mit nichts von alledem Probleme. Dann hab ich, so dumm wie ich damals war, angefangen mich Stück für Stück kaputt zu machen. Ich hab meine komplette Freizeit damit verbracht zu trainieren. Damals war ich zwölf, glaube ich. Mit fünfzehn war ich ziemlich tödlich. Ich hab mir immer wieder Hungerspiele angesehen, in denen wir verloren hatten.
Ich hab sie alle gehasst."
Er machte eine Pause und warf mir einen prüfenden Blick zu.
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich war total erschüttert. Wer tat seinem Kind denn so schlimme Sachen an? Welches Monster?
"Das tut mir so leid."
Mir kamen die Tränen.
Welches Recht hatte ich denn jetzt zu weinen? Das alles war Aiden passiert. Nicht mir. Ihm ging es schlecht, nicht mir!
"Hey, nicht weinen."
Er wischte meine Tränen weg. "Tut mir leid, ich wollte dich nicht so aufregen."
"Du hast mich nicht aufgeregt."
Er grinste und drückte meine Hand.
"Ist schon okay."
Noch bevor ich nochmal durchdenken konnte, was ich da tat, fiel ich ihm um den Hals.
Ich spürte meine Verletzungen kaum. Sein Herz fing an zu rasen. Oder war es meins?
Langsam schlossen sich seine Arme um mich. Ganz vorsichtig.
Er hatte meinen lädierten Oberkörper nicht vergessen.
Jetzt wo er mich hielt, merkte ich zum ersten mal wie stark er war.

Langsam wich ich wieder zurück.
"Kann ich dich auch was fragen?"
Ich nickte.
"Warum kümmerst du dich so um mich? Es hat sich nie jemand um mich gekümmert und die erste die das tut ist eine völlig Fremde."
Ich könnte jetzt sagen, weil es mein Job ist. Aber ich tat es nicht aus Pflichtgefühl.
"Du glaubst vielleicht, von dir wäre nichts mehr übrig und dass du keine Gefühle mehr für irgendjemanden übrig hast, die über Hass hinausgehen, aber ich denke, dass du nur jemanden brauchst der an dich glaubt, weil jeder dich längst aufgegeben hat, auch du selber."
Wir berührten uns nicht mehr, aber wir waren uns trotzdem nah. Er kam mir wieder ein Stückchen näher, seine Stirn stieß gegen meine. Wollte er mich küssen? Wollte ich, dass er mich küsste? Aber er küsste mich nicht. Stattdessen flüsterte er mir etwas zu:
"Du bist zu gut für diese Welt, Piper."

Hunger Games ~ PompejiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt